Klassenfahrt mit Medienfasten

Hans-Wolfgang Roth

Die Kunstreise an unserer Schule hat sich mehr und mehr zu einer individuellen Visionssuche mit bildnerischen Mitteln entwickelt. Dadurch ist im Laufe der Jahre bei der Schülerschaft eine hohe Sensibilität für »Störungen von außen« entstanden.

Anlass für den Schritt zum Medienverzicht war die Erfahrung, dass die Verbindung nach Hause oder Unterhaltungsgewohnheiten diesen Prozess erheblich beeinträchtigen und die intensive innere Auseinandersetzung mit sich selbst erschweren. So starteten wir vor fünf Jahren den Versuch, den Medienverzicht für dieses Projekt zur Voraussetzung zu machen. Die Elternschaft gab volle Unterstützung; so war eine Grundlage geschaffen, die in den folgenden Jahren zu einer außergewöhnlichen Erfahrung wurde, durch die – so mein Eindruck – unsere Schule ihrer Verantwortung gerecht wird. Unsere Achtzehnjährigen sind bereits mit den »Smartphones« groß geworden. Diese Geräte sind unverzichtbarer Teil ihres Alltags, gleichsam das Herzstück ihrer sozialen und auch inneren Entwicklung geworden. Gruppenzusammenhänge, gemeinsames Sein, Peergroups mit dem Austausch von Selbstbildern und Selbstverständnis sind durch die Teilhabe an dieser Kommunikationsform unabhängig von äußeren Treffen möglich und dienen der Selbstfindung in der Phase der Pubertät. Was Gewohnheit und Lebensgefühl geworden ist, will natürlich beibehalten werden, und es entsteht bei der Vorstellung eines Verzichts Irritation, aber eben auch Neugier, was passiert, wenn diese Möglichkeit im Reise-Alltag nicht mehr zur Verfügung steht. Übrigens kann hier auch der Kunstbegriff ansetzen, der dort angesiedelt ist, wo Gewohnheiten aufgebrochen werden, um sich auf neue Erfahrungen einzulassen und schöpferisch Lösungen zu entwickeln.

Die durchweg positiven Erfahrungen mit dem Medienverzicht werden von einer Klasse zur anderen in speziellen Griechenlandabenden, an denen die Eltern und Schüler der kommenden Klasse eingeladen sind, als Vorbereitung weitergetragen und das »Medienfasten« wird bereits als ein Highlight genannt, weil die Schüler die Auswirkungen selbst erlebt haben und davon berichten können.

Wichtig ist mir bei dieser Verzicht-Voraussetzung, dass die Schüler während des Aufenthaltes ausreichend durch bewusste Handlungen zu Erlebnissen und sinnlichen Erfahrungen kommen können, die sich auch mit den besuchten Kultstätten oder Fragestellungen, die wir bearbeiten, verbinden lassen, um innerlich etwas in Bewegung zu bringen. Zum Beispiel in Mykene, wo wir mit dem Besuch des Kuppelgrabes Fragen über den Tod besprechen und über eine kleine Aktion zum Erleben bringen, indem jeder Schüler einzeln in das Grab getragen wird und dort eine Weile alleine verbleibt. Ein weiteres hilfreiches Element des Aufenthaltes stellt das angestrebte Kunstprojekt jeden Schülers dar – diese reichen von traditionellen bildnerischen Verfahren, über Landart, Performances, Installationen bis zu sozialen Prozessen –, das durch individuelle Gespräche begleitet wird. Doch die grundlegende Voraussetzung heißt »Zeit für sich selbst« zu haben.

In drei Plenumsveranstaltungen am Tag soll dem sozialen und individuellen schöpferischen Bereich Rechnung getragen werden. Besonders das morgendliche Gespräch ist so angelegt, dass gleichsam eine Atmosphäre des Wesentlichen angeregt werden soll. So äußerte eine Schülerin folgenden Satz: »Ohne neue Fragen und Antworten bleiben wir da, wo wir sind. Wir bleiben, aber wir entwickeln uns nicht weiter. Doch wir bleiben nicht, sondern fallen zurück.« Man könnte auch sagen, durch diesen regelmäßigen und festgelegten Austausch entsteht eine andere Art von Alltag, der sich auf die individuellen Erlebnisse und Erfahrungen eines jeden einzelnen Menschen stützt, sich also das Milieu einer Entwicklungsgemeinschaft bildet, die über sich selbst und ihr Anliegen wacht.

Loslassen und zu sich selber kommen

Die Schüler berichten immer wieder über folgende Erfahrung durch den Medienverzicht: »Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich Zeit hatte für mich selbst und dadurch neue Erfahrungen mit mir machen konnte. Aus Gewohnheit hätte ich zum Mediengerät gegriffen; doch durch diesen Mangel konnte ich erstmals mit mir in Verbindung kommen.« – »Ich hatte Zeit, mit meiner Klasse etwas zu machen und konnte Mitschülern begegnen, für die ich mir vorher noch nie Zeit genommen hatte. Ich habe ein neues Gemeinschaftsgefühl der Klasse erleben können, weil sie durch die frei gewordene Zeit etwas zusammen unternehmen wollte, Ideen austauschte und auch umsetzte.« – »Ein Glück, dass ich einmal ohne Verbindung nach zu Hause leben konnte; denn Nachrichten, Stimmen und Musik, die ich kenne, hätten mich unmittelbar wieder mit der alten Welt verbunden und in die alte Rolle zurückversetzt.«

Dazu muss gesagt werden, dass das Loslassen der Medienwelt und der vertrauten Alltagswelt und die Rückkehr bei dieser Reise bewusst gestaltet werden. Über 55 Stunden mit der Bahn, dem Bus und dem Schiff unterstützen den Loslass- und Annäherungsprozess. Am Ziel angekommen, werden alle Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien eingesammelt und symbolisch in einer Pappschachtel eingeschlossen, mit Klebeband umwickelt und erst am Schluss in einem gemeinsamen Prozess, der noch einmal spannend ist, wieder ausgegeben. Denn wie begegnet man wieder der alten Welt, die einen mit vielen tausend Nachrichten empfängt? Bedeutet das Öffnen der Schachtel am letzten Abend das unmittelbare Ende eines Gemeinschaftslebens und eines individuellen Findungsprozesses? Sollten nicht erst im Lauf der Rückfahrt die Medien wieder ausgegeben werden, um noch einen letzten gemeinsamen Abschiedsabend zu haben?

Was bleibt?

Schließlich bleibt noch die Frage, was außer der besonderen Erfahrung mit sich selbst, von der auch Jahre später immer noch berichtet wird, bezüglich des Medienverzichts übriggeblieben ist. Welche Auswirkungen für die spätere Mediennutzung hatte diese Erfahrung des dreiwöchigen Verzichts? Diese Frage stellte ich allen bisherigen Jahrgängen, die diese Erfahrung machen konnten. Wie zu erwarten war, ist folgende Tendenz zu verzeichnen: In der heutigen Berufs- und Alltagswelt kann auf Medien, besonders die Kommunikation betreffend, nicht mehr verzichtet werden, aber in den Ferien kommt die Erinnerung wieder an diese besondere Zeit »ohne«. Hier gibt es bei einigen im Beruf, dem Studium oder der Ausbildung Stehenden den Impuls, das Allroundgerät weitgehend ausgeschaltet zu lassen.

»Wer einmal drei Wochen ohne Handy und Medien-Beschallung ausgekommen ist, weiß dieses sehr zu schätzen, jedenfalls geht es mir so. Hätten wir damals alle ein Handy oder sonstiges Gerät dabei gehabt, wären wir uns als Klasse auch nie so nahe gekommen und hätten unser Gegenüber nie so verstanden, wie wir es getan haben. Man hat viel von den Mitschülern gelernt, mit denen man auf einer ganz neuen Ebene kommunizieren konnte.«

»Eine Fassade brach weg, wodurch es uns möglich war, uns näher zu kommen als je zuvor. Es wurden längere Gespräche geführt, Kartenspiele gespielt und es wurde gesungen, da sonst keine Musik zur Verfügung stand. Ich denke, dass da auf unterbewusster Ebene eine Art Öffnung stattfand und wir uns dadurch miteinander im Hier und Jetzt begegnen konnten. Spannend wurde es dann, als uns am Ende die Handys wieder überreicht wurden. Für mein Gefühl änderte sich etwas schlagartig. Die Isolation war direkt wieder da. Dieses Gefühl, dass jeder Mensch in seiner kleinen Welt steckte, wenn er auf sein Display schaute. Direkt war wieder Vernetzung nach zu Hause da und direkt war das intensive Gruppengefühl von zuvor weniger präsent ... Ich bin mir sicher, dass sich dieser Erfahrungswert in mir eingeprägt hat. Ich bin eine absolute Befürworterin davon, Zeiten des Medienfastens einzulegen und nehme es mir selbst immer mal vor, wenn ich im Urlaub bin.« »Ich konnte mich damals besser auf die Kunst und mein Projekt einlassen, da meine Gedanken nicht von meinen Geräten eingenommen waren. … Das Medienfasten würde ich gerne wiederholen; am besten wird es mir wahrscheinlich auf meiner geplanten Reise gelingen; denn dort werde ich einen weniger geregelten Tagesablauf haben als jeden Tag auf der Arbeit.«

»In diesen drei Wochen sind wir als Klassengemeinschaft unglaublich stark zusammengewachsen. Jeder Einzelne war so in seine Welt eingetaucht, mit sich und dem individuellen Kunstprojekt beschäftigt, dass wir nicht mitbekamen, was zu dieser Zeit in der Welt geschah und es war uns in dem Moment auch gar nicht wichtig. Erst am Ende ist mir persönlich aufgefallen, wie schnell die Zeit vergangen war und was alles in der Welt passiert war, für mich stand die Zeit gefühlt still in den drei Wochen. … Diese Erfahrung gemacht zu haben, macht es mir heute leichter, immer mal wieder Abstand vom Handy und den sozialen Medien zu gewinnen mit dem Wissen, wie gut es mir tut, von allem Abstand zu nehmen. … In diesen medienfreien Zeiten merke ich immer wieder, wie abhängig ich und jeder Einzelne doch eigentlich vom Handy und den sozialen Medien ist, wie es einen im Alltag beeinflusst, die Zeit raubt und persönlich prägt, was mich immer wieder aufs Neue erschreckt. Der Verzicht auf mein Handy und die Medien gibt mir ein Gefühl von Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit und Freiheit; das gibt mir Zeit für mich und ein Gefühl für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.«