Klassenlehrer als Stifter, Bewahrer und Gestalter von Gemeinschaften

Veronika Richter

Im Raum unserer Sonnenklasse steht ein riesiger Schrank. Die 18 Fünf- bis Sechsjährigen bekamen die Aufgabe, als gesamte Klasse über den Schrank zu klettern. Die Kinder begannen sofort fröhlich, eine Treppe aus allem verfügbaren Mobiliar hinter dem Schrank aufzubauen und eine Möglichkeit zu erfinden, wie sie sich vorn abseilen oder an der Schrankseite wieder herunterkommen konnten. Alle fassten begeistert mit an.

Schließlich war die Anlage sicher genug und der Aufstieg auf den »Mount Everest« konnte beginnen. Nach und nach kletterten die Kinder hinauf und hinüber und jauchzten glücklich, wenn sie auf der anderen Seite sicher am Boden gelandet waren. Alle bis auf ein Kind hatten den Schrank überklettert, aber das machte nichts, fanden die Anderen und erwarteten nun ein Lob. »Ihr habt die Aufgabe nicht gelöst.«, sagten die Erzieher »Wir hatten gesagt, es soll die ganze Klasse hinüberklettern.« – »Aber Max traut sich nicht!«, wandten die Kinder ein. »Ja«, antworteten sie, »und das macht auch nichts. Nun findet eine Lösung, wie alle, auch Max, über den Schrank kommen!« Ratlos schauten sich die Kinder an. Dann blickten sie erwartungsvoll zu den Erwachsenen, welche Lösung sie denn vorschlagen würden. Da sie jedoch nicht halfen, mussten die Kinder selbst überlegen. Schließlich, nach langer Beratung und vielfältigen Versuchen, schafften sie es doch, gemeinsam über den Schrank zu kommen – ein paar Kinder zogen an Max von vorn, ein paar schoben ihn von hinten, ein paar machten Räuberleiter, einer band ihn an sich fest, andere breiteten ein dickes Kissenbett unten aus, so dass alle, sogar Max, ein großes Vergnügen daran hatten. Schließlich hatten sie unter fröhlichem Lachen und auch mit Momenten spannungsgeladener Stille die Aufgabe erledigt – und sie brauchten kein Lob dafür, denn ihre Freude am Gelingen machte sie selbst sehr zufrieden. Selbst in den höheren Klassen konnten sie sich an diese Episode noch gut erinnern.

Kapitän des Klassenschiffs – der Klassenlehrer und seine Kinder

Auf dieses Erlebnis kam ich während meiner gesamten Klassenlehrerzeit in der inzwischen doppelt so großen Klasse von 36 Kindern immer wieder zurück. Ich sah mich als Kapitän eines Schiffes, das nur dann zu unbekannten Ländern segeln kann, wenn die Mannschaft zusammenhält. »Alle müssen über den Schrank!«, war unser gemeinsames Motto. Gleich, welche Aufgabe die Kinder von mir bekamen: Sie sollte gemeinsam und von allen erledigt werden. Keiner durfte wegen seiner Langsamkeit, fehlenden Mutes oder mangelnder anderer Fähigkeiten ausgeschimpft werden. Im Gegenteil: Die Herausforderungen wurden gerne angenommen, gerade auch für solche Kinder wie Max eine gute Lösung zu finden – und zwar ohne den Lehrer! Inzwischen sind sie in der 7. Klasse und die Fachlehrer berichten vom außerordentlich guten Zusammenhalt der Klasse – leider auch dort, wo sie sich gegen einen Lehrer verbünden, weil sie lieber draußen spielen wollen oder wenn einer von ihnen einen Unsinn ausgeheckt hat und die Lehrer nach dem Übeltäter fahnden – es sind immer alle oder keiner, selbst wenn einige gar nicht wissen, was eigentlich genau passiert ist.

Ein Kapitän hat seine Mannschaft und den Horizont im Blick. Mir ist die Stärkung der Gemeinschaft wichtiger als der Unterrichtsstoff. Dieser dient mir vor allem dazu, immer wieder das Lernen in Gemeinschaft zu erproben. Denn was die Kinder in Zukunft brauchen, ist nicht Wissen, sondern die Fähigkeit, sich in der rauen See dieser Welt die Gefährten suchen zu können, mit denen sie das Abenteuer, ihre Welt zu erhalten und zu gestalten, gemeinsam bestehen können.

Primus inter pares – der Klassenlehrer und die Eltern

»Alle müssen über den Schrank!«, sage ich zu den Eltern. Das beruhigt die Eltern der vorsichtigen Kinder und lässt diejenigen der forschen Draufgänger schmunzeln. (Diese haben allerdings die Sorge, dass ihr Kind nicht genügend gefordert und gefördert wird – und in der Tat ist das mein Problem, wie ich den einen Kindern zu Herausforderungen verhelfen kann, die sie auch mal allein bestehen müssen und die anderen vor Überforderung schütze, ohne ihnen doch jegliche Herausforderung zu ersparen. Wenn alle über den Schrank müssen, dann heißt das also nicht, dass jeder klettern muss, sondern kann auch bedeuten, dass wir Kletterhilfe geben.) Was die Eltern im Laufe der Klassenlehrerzeit ihres Kindes lernen, ist: dass vor allem sie selbst gemeint sind. Auch von den Eltern verlange ich, dass sie eine soziale Gemeinschaft bilden. »Ihre Kinder werden nur dann erfolgreich lernen, wenn sie es gemeinsam tun, und das können sie nur, wenn vor allem Sie als Eltern eine starke Gemeinschaft bilden«, sage ich schon am Elternabend vor der Einschulung zu ihnen. Als »Erster unter Gleichen« gebe ich als Klassenlehrerin die Richtung vor, dann jedoch beginnen acht Jahre einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Gern lasse ich mir von den Eltern erzählen, was ihre Kinder brauchen und richte den Unterricht danach aus, auch wenn ich menschenkundlich begründet einige Dinge anders mache, als sie es zunächst erwarten. Das versuche ich, auf Elternabenden nachvollziehbar zu erklären.

Auch bei Themen, die nicht direkt mit dem Unterricht zu tun haben, möchte ich gerne, dass die Eltern zusammenarbeiten – mit mir, und vor allem untereinander. So habe ich im ersten Schuljahr bereits angeregt, dass sie sich untereinander über den eigenen Medienkonsum austauschen, um eine Vereinbarung zur Medienerziehung ihrer Kinder zu treffen. Inzwischen gibt es eine Medienvereinbarung von Eltern, die ihrem Kind ein Handy mit Internetzugang erst nach der 8. Klasse geben wollen. Eltern, die das früher für ihr Kind wünschen, haben die Vereinbarung nicht unterzeichnet, sind jedoch am Beschluss beteiligt gewesen und haben ihn unterstützt.

Schwieriger war es in der Zeit der coronabedingten Schulschließung. Jedes Elternteil hatte eine eigene Ansicht davon, was in dieser Zeit meine Aufgabe sein sollte und viele teilten mir diese Ansichten per E-Mail mit. Ich konnte nur für alle Beteiligten unbefriedigende Kompromisse schließen und meine eigene Haltung dazu nicht zur Diskussion stellen – hier fehlte die Gemeinschaft, die digital nicht herzustellen war.

Teamplayer – der Klassenlehrer und sein Kollegium

Wie verhält sich ein Klassenlehrer, der von seinen Kindern und deren Eltern Gemeinschaftssinn verlangt, nun im eigenen Kollegium?

In der Vergangenheit habe ich versucht, für meine Kinder einige Dinge einzurichten, die neu an unserer Schule waren, wie eine Paddeltour als Achtklassfahrt. Ich habe gemerkt, dass einige Kollegen sich nun unter Druck sahen, diese Dinge ebenso zu machen, weil ich immer versucht habe, meine Anliegen in der Konferenz als unverzichtbar für das Wohl der Kinder darzustellen. Zum Glück gab und gibt es in meiner Schule Kollegen, die mir am Rande immer mal spiegeln, wie ich mich verhalte und wie sozial ich bin – oder eben auch nicht. Ich habe inzwischen gelernt, auf Alleingänge zu verzichten, alle Kollegen mit über den Schrank zu nehmen und die Dinge, die ich mit meiner Klasse unternehmen möchte, als meinen Weg nachvollziehbar darzustellen, um auch darauf hören zu können, was andere für Einwände oder auch für viel bessere Ideen haben. Im gemeinsamen Gespräch finden wir nun in den Konferenzen oder auch beim Kaffee zwischendurch gute Lösungen auch für Individualisten wie mich. Übrigens ist inzwischen die Achtklass-Paddeltour fester Bestandteil des Curriculums, begleitet durch den Klassenlehrer, den Sportlehrer und eine weitere Kollegin.

Auch bei der Überlegung, ob wir eine Alternative zum Abitur anbieten wollen, sind wir einen längeren Weg gegangen, um gemeinsam »über den Schrank« zu kommen.

Seit einigen Jahren versuchten ein paar Kollegen und einige Eltern, das Certificate of Steiner Education (CSE) – eine Hochschulzugangsberechtigung für Waldorfschüler, die unabhängig vom Abitur erworben werden kann – an unserer Schule einzuführen. Das scheiterte daran, dass andere Kollegen die zusätzliche Belastung fürchteten und sich in Abstimmungen dagegenstellten. Aus Rücksichtnahme, und da einmütige Abstimmungen in wichtigen Fragen zum guten Ton an unserer Schule gehören, wurde das Thema beiseitegeschoben. Damit waren wiederum die Verfechter des CSE unzufrieden, und wir suchten nach einer Lösung, alle Kollegen mitzunehmen. Herausgekommen ist ein gemeinsamer Beschluss, eine Probephase einzuführen, in der wir mit der zehnten Klasse mit dem CSE beginnen und nur diejenigen Kollegen daran teilnehmen, die das wünschen – mehr oder weniger mentoriert, ganz nach individuellem Bedürfnis. Die anderen schauen sich das im kommenden Schuljahr an und können dann einsteigen – oder auch nicht. An diesen Gesprächen war das gesamte Kollegium, auch aus der Unterstufe, beteiligt.

Zoon Politikon – der Klassenlehrer in der Gesellschaft

Wie stark soll sich ein Klassenlehrer in der Gesellschaft engagieren? Ist er zu weltfremd, hat er spätestens in der achten Klasse einen schweren Stand. Ist er anderswo zu sehr eingebunden, hat er für seine Klasse zu wenig Zeit und Energie. Es ist für einen Lehrer in jedem Fall notwendig, für sich einen Ausgleich zum schulischen Leben zu finden, ob das nun Reisen, das Singen in einem Chor, die Familie oder die Beschäftigung mit schulfremden Themen ist. Ganz im Leben zu stehen, ist Voraussetzung für jemanden, der Kinder lehren möchte, in der Welt zu leben. Ich lebe etwa 15 Kilometer entfernt von meiner Schule in einer Gemeinde, die nicht nur einen guten Chor, sondern auch ein physikalisches Institut hat. Über das Singen im Chor bin ich auch mit den Physikern befreundet, die dort arbeiten und bekam eines Tages die Gelegenheit, das große Cherenkovteleskop, das für den Einsatz in der Atacamawüste in Südamerika getestet wurde, in der Nähe unserer Schule zu besichtigen. »Ich zeig dir das Teleskop, bring ruhig auch deine Schüler mit!«, sagte der Physiker zu mir. Nun fand ich meine Fünftklässler zu klein, mit ihnen über Hochenergieteilchen aus dem Weltall zu sprechen, also fragte ich meine Physikkollegin, ob sie mich mit ihrer zehnten Klasse begleiten wolle. So fuhren wir mit ihrer Klasse zum Testgelände und bekamen eine Vorführung und eine kleine Unterweisung in die Aufgaben eines Spiegelteleskops. Als wir das Schulgelände verließen, waren meine Kinder neugierig, wohin ich mit der Oberstufe unterwegs war. Ich erklärte ihnen kurz, worum es ging, und sie blieben ein wenig eifersüchtig zurück. Am Ende der sechsten Klasse befragten sie mich in einer Stunde: »Du kannst doch Mathe und Physik und so. Können wir nicht mal was richtig Schweres machen, über die Primzahlen vielleicht?« Daraufhin haben wir mal was richtig Kompliziertes gemacht. Ich habe von dem Mathematiker David Hilbert, der Riemannschen Vermutung und der Zetafunktion erzählt. Das war natürlich noch gar nicht dran und verstehen konnten sie es auch nicht, aber die Tatsache, dass ich noch ganz anders in der Welt stehe, als nur Klassenlehrer zu sein, hat einige neugierig auf die Naturwissenschaften gemacht und zwei von ihnen haben einen Ehrgeiz entwickelt, der die ganze Klasse angesteckt hat. Wenn jeder Klassenlehrer seine Kinder neugierig auf die Welt machen kann, indem er sie mit hinein nimmt in seine Weltbegegnung, so kann er in seinen Kindern das griechische Ideal des Menschen, das zoon politicon, wecken: lebendig in der Welt drinnen zu stehen, um sie zu gestalten.

Zur Autorin: Veronika Richter ist Handarbeits- und Klassenlehrerin in der FWS Berlin-Südost.