Der Klassenlehrer und seine Autorität. Ein Grundprinzip der Waldorfpädagogik bewährt sich

Peter Loebell

Ein Lehrer, der keine Autorität besitzt, kann seinen Beruf nicht sinnvoll ausüben, sagt der Erziehungswissenschaftler Hans Werner Heymann. Denn »die Person, die für andere eine Autorität ist, genießt Respekt, wird geachtet, wird ernst genommen, und auf dieser Basis wird ihr ... das Recht auf Anleitung, Führung und Treffen von Entscheidungen zugestanden, die auch für andere verbindlich sind.« Nach Ansicht der Deutschlehrerin Silke Riedl wird eine Lehrerpersönlichkeit aufgrund folgender Eigenschaften von Jugendlichen anerkannt:

• Sie gilt als Vorbild bei der Suche nach Orientierung.
• Sie vermittelt klare Strukturen, klare Regeln und klare Arbeitsanweisungen, ohne dass diese langwierig diskutiert werden müssen.
• Sie unterstützt die Schülerinnen und Schüler und nimmt sie ernst.
• Sie pflegt einen authentischen Umgang mit den jungen Menschen, ohne diese persönlich zu verletzen.
• Sie kann auch Fragen beantworten, die vom eigentlichen Unterrichtsstoff abweichen.
• Sie interessiert sich für ihre Schülerinnen und Schüler.

Die Persönlichkeit des Lehrenden wirkt sich unmittelbar auf die Überzeugung der Schüler aus und hat unter anderem für ihre sogenannten Kontrollüberzeugungen eine zentrale Bedeutung, das heißt, das Auftreten von Ereignissen wird von ihnen als abhängig von ihrem eigenen Verhalten gesehen. Menschen, die eine »internale Kontrollüberzeugung« ausgebildet haben, gehen davon aus, dass sie selbst die Ergebnisse ihrer Handlungen und ihre Lernerfolge beeinflussen; und das ist äußerst wichtig für die eigene Anstrengung beim Lernen. Marcus Hasselborn vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung und der Frankfurter Psychologieprofessor Andreas Gold zitieren in ihrem Lehrbuch aus einer Längsschnittuntersuchung von 1.600 Kindern aus den Klassenstufen 3 bis 7: »Kinder, die ihre Lehrer als warmherzig, zuverlässig und in ihrem Verhalten als vorhersagbar beschrieben, entwickelten ein besonders positives Muster eigener Kontrollüberzeugungen. Die positiven Kontrollüberzeugungen gingen einher mit einer aktiveren Unterrichtsbeteiligung und mit besseren Schulleistungen.« Die Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit für den Lernerfolg der Schüler wird auch durch die statistische Auswertung von mehr als 800 englischsprachigen Meta-Analysen belegt, die der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie durchgeführt hat. Die Rangfolge von 138 verschiedenen Einflussfaktoren zeigt, »dass aktiver und geführter Unterricht viel effektiver ist als ungeführter, moderierender Unterricht«. Dagegen seien Fachkompetenz und Ausbildung des Lehrers nur von geringer Bedeutung für den Lernerfolg. Einen weit stärkeren positiven Effekt schreibt Hattie praktischen Unterrichtsversuchen und deren Reflexion (»Micro-Teaching«) zu.

Außerdem kommt der Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung, der Klarheit der Lehrpersonen, dem Nichtetikettieren von Lernenden sowie der Lehrerfort- und Weiterbildung eine überragende Bedeutung für die Lernprozesse zu. Die »Lehrpersonen gehören zu den wirkungsvollsten Einflüssen beim Lernen«. Dabei müssen sie »direktiv, einflussreich, fürsorglich und aktiv in der Leidenschaft des Lehrens und Lernens engagiert sein«, sagt Hattie. 

Hatties monumentale Analyse wird durch die Hirnforschung unterstützt. Der Neurobiologe Joachim Bauer konstatiert in seinem Buch über Spiegelneurone, dass »die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden von überragender Bedeutung« und »die persönliche Unterweisung, auch das Zeigen und Vormachen durch die lehrende Person, eine entscheidende Komponente des Lehrens und Lernens« ist. Sein Fachkollege Gerald Hüther untersucht die Bedingungen, die die Resilienz von Kindern fördern. Dabei handelt es sich um jene seelische Spannkraft, Elastizität und Strapazierfähigkeit, die einen Menschen in die Lage versetzt, schwere Belastungen im Leben zu bewältigen, ohne durch sie krank zu werden. Demnach muss Schule eine Atmosphäre von Herausforderung, Schutz und Vertrauen schaffen: »Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene ›Vorbilder‹‚ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden.«

Alle wissenschaftlichen Befunde sagen aber nichts darüber aus, wie lange es dauert, bis ein tragfähiges Autoritätsverhältnis aufgebaut ist, und an welchem Punkt der kindlichen Entwicklung es durch etwas anderes abgelöst werden sollte.

Worauf beruht die Autorität des Klassenlehrers?

Ein wesentliches Profilmerkmal der Waldorfschulen ist, dass der Klassenlehrer die Kinder während der ersten acht Jahrgangsstufen pädagogisch begleitet und eine Vielzahl von Fächern morgens in Epochen unterrichtet. Die Autorität der Lehrpersonen ist nicht in erster Linie durch fachliches Expertenwissen geprägt. Sie beruht vielmehr zunächst auf einem Vertrauensvorschuss der Kinder und ihrer Eltern, der sich im Laufe der Schulzeit immer wieder neu als gerechtfertigt erweisen muss. Dieser lebt davon, dass sich Lehrer ständig fort­bilden und von den Erfahrungen, die die Schüler sowie deren Eltern im Umgang mit den Lehrpersonen machen.

• Neben dem selbstverständlichen Einhalten von Vereinbarungen und Ankündigungen bewahrt sich der Pädagoge die Flexibilität, auf unvorhergesehene Ereignisse geistesgegenwärtig reagieren zu können.
• Kinder brauchen das Gefühl, dass sie von ihrer erwachsenen Bezugsperson erkannt werden. Individuelle Anforderungen und Lob sollten stets ermutigen und weitere Anstrengungen herausfordern.
• Vertrauen in die Führung durch die Lehrperson wird durch die wiederholte Erfahrung gefestigt, dass die geforderte Arbeit und die vorgeschlagenen Lösungswege zum Erfolg führen.

Ein wichtiges pädagogisches Ziel besteht aber auch darin, dass sich die jungen Menschen in der Zeit der Pubertät von der Autorität lösen und eine eigene Urteilsfähigkeit entwickeln können. Dabei ist es von Bedeutung, dass die Autoritätsbeziehung in einer Situation beendet wird, die nicht zusätzlich von einer besonders gravierenden Entwicklungskrise belastet ist. Die dadurch entstehenden Fragen werden von Rudolf Steiner in einem 1924 in Torquay gehaltenen Vortrag eindeutig beantwortet. Hier charakterisiert er das Autoritätsprinzip als maßgeblich für das ganze zweite Lebensjahrsiebt: »Nichts ist nützlicher und fruchtbarer im Unterricht, als wenn Sie dem Kinde zwischen dem 7. und 8. Lebensjahre etwas in Bildern geben und später, vielleicht im 13., 14. Lebensjahre, wieder in irgendeiner Form darauf zurückkommen können. Gerade aus dem Grunde wird bei uns in der Waldorfschule versucht, die Kinder möglichst lange bei einer Lehrkraft zu lassen.

Die Kinder werden, wenn sie in die Schule kommen, mit dem 7. Lebensjahre einer Lehrkraft übergeben. Die steigt dann mit den Klassen auf, soweit es eben geht. Das ist deshalb gut, damit die Dinge, die einmal keimhaft in dem Kinde veranlagt werden, immer wieder und wiederum den Inhalt der Erziehungsmittel abgeben können.«

Das »Klassenlehrerprinzip« hält den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stand

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die modernen Gesellschaften von verschiedenen Entwicklungen geprägt, die Werner Helsper, Professor am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik in Halle, als »Antinomien« (Widersprüche) bezeichnet. Die vier Hauptspannungsfelder sieht er in der »Individualisierung«, »Rationalisierung«, »Pluralisierung« und der »Zivilisation«. Nach seiner Ansicht antwortet die Waldorfschule mit ihrem Klassenlehrerkonzept in besonderer Weise auf diese Widersprüche:  Der Tendenz zur Individualisierung setze die Waldorfschule den Klassenlehrer entgegen, der als Vorbild und Autorität die Freiheit der Schüler begrenze und sie vom »Autonomiezwang« entlaste. Auf die zunehmende Rationalisierung des Alltagslebens antworte die Waldorfschule, indem sie das Lernen entschleunige und von Leistungs- und Platzierungszwängen entlaste. Sie tue das, indem sie eine Gemeinschaft bilde, in der Verlässlichkeit und Sicherheit in persönlich-pädagogischen Beziehungen eine große Rolle spielten. Die Waldorfschule entlaste außerdem die jungen Menschen und vermeide deren Desorientierung durch pädagogische Vorbilder und stellvertretende pädagogische Verantwortungsübernahme durch den Lehrer (dies zum Thema Pluralisierung). Und zum Stichwort Zivilisation schreibt Helsper, dass Kinder ein emotional stabiles Selbst herausbilden können, wenn ihnen nahe und verlässliche pädagogische Bindungen gewährt werden.

Eine qualitative Untersuchung des Klassenlehrerprinzips am Beispiel von drei ausgewählten Einzelfällen führt zu keiner eindeutigen Empfehlung für oder gegen die achtjährige Dauer der Klassenlehrerzeit. Allerdings stellen die Forscher fest, die Beziehungen der Schüler zu den Klassenlehrern bis zum Ende der achten Klasse verliefen weniger krisenhaft, wenn es den Lehrern gelinge, der individuellen Entwicklung der Schüler und ihrer daraus entspringenden Suche nach Verselbstständigung entsprechend das Autoritätskonzept reflexiv zu dynamisieren und zu modifizieren.

Klassenlehrer – wie lange?

Nicht immer kann der gesamte Zeitraum von acht Jahrgangsstufen durch eine Lehrkraft begleitet werden. Viele Gründe – Schwangerschaft, Krankheiten, Schulwechsel, berufliche Neuorientierung – führen zu Klassenlehrerwechseln. Aber auch die hohen Anforderungen an die pädagogische und fachliche Kompetenz von Klassenlehrern – insbesondere in der 7. und 8. Jahrgangsstufe – haben zu Diskussionen über die angemessene Dauer der Klassen­lehrerzeit geführt. In einer empirischen Studie zu den Bildungserfahrungen an Waldorfschulen gaben 69 Prozent von 827 Oberstufenschülern aus zehn deutschen Waldorfschülern an, sie hätten eine achtjährige Klassenlehrerzeit erlebt. Bei 26 Prozent wechselte der Lehrer, bei weniger als zwei Prozent verkürzte die Schule die Klassenlehrerzeit. Die überwiegende Mehrheit der Befragten (über 65 Prozent) äußert sich im Rückblick positiv zur Dauer der Klassenlehrerzeit. 80 Prozent der Befragten haben den Unterricht im Rückblick oft als »interessant« wahrgenommen, und 79 Prozent konstatieren, ihre Klassenlehrkraft habe sich um den Lernfortschritt jedes einzelnen Schülers bemüht. Negative Bewertungen stehen offenbar meist im Zusammenhang damit, dass sich zwischen Klassenlehrkräften und einzelnen Schülern ein gestörtes Verhältnis entwickelt hatte. Wer acht Jahre Unterricht bei einem Klassenlehrer hatte, ist offenbar weniger auf Nachhilfe angewiesen (43 Prozent) als Schüler, die eine verkürzte Klassenlehrerzeit durchlaufen haben (51 Prozent). Aus der Tatsache, dass viele Waldorfschüler in der Oberstufe Nachhilfeunterricht in Anspruch nehmen, lässt sich daher nicht schließen, dass der Unterricht der Klassenlehrer besondere Mängel aufweist.

Dennoch gibt es auch einschränkende Bewertungen zur Klassenlehrertätigkeit in der Mittelstufe, denn

• fast 60 Prozent der Befragten hätte sich in der 8. Klasse mehr Unterricht durch Oberstufenlehrer gewünscht;
• mehr als die Hälfte findet es im Nachhinein nicht gut, so viele Fächer bei einem Lehrer gehabt zu haben.

Aus diesen Zahlen geht hervor, dass sich die Bedürfnisse der jungen Menschen in der siebten und achten Jahrgangsstufe stark verändern. Die entsprechende Weiterentwicklung der Methodik und Didaktik aller Fächer stellt eine Herausforderung für die Lehrkräfte dar, die sich in neuerer Zeit durch gesellschaftliche Veränderungen verschärft. Wenn sich die Beziehung der Pädagogen zu den Schülern tiefgreifend wandeln soll, wird gerade von den Klassenlehrern in der 7. und 8. Jahrgangsstufe eine außerordentlich große Wandlungsfähigkeit und Selbstüberwindung gefordert.

Zum Autor: Prof. Dr. Peter Loebell ist Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart.

Literatur: Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, München 2006 | Marcus Hasselhorn, Andreas Gold: Pädagogische Psychologie, Stuttgart 2013 | John Hattie: Lernen sichtbar machen. Hohengehren 2013 | Werner Helsper u.a.: Autorität und Schule, Wiesbaden 2007 | Hans Werner Heymann: Autorität im Schulalltag, In: Pädagogik, 2/2006 | Gerald Hüther: Resilienz im Spiegel entwicklungsneurobio­logischer Erkenntnisse. In: G. Opp/ M. Fingerle (Hrsg.): Was Kinder stärkt, München und Basel 2007 | Sylva Liebenwein, Heiner Barz, Dirk Randoll: Bildungserfahrungen an Waldorfschulen, Wiesbaden 2012 | Silke Riedl: »Diese Klasse ist nicht zu unterrichten.« Autoritätsprobleme in einer Hauptschulklasse aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler. In: Pädagogik, 2/2006 | Rudolf Steiner: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung. 8 Vorträge in Stuttgart 1921, GA 302, Dornach 1978, ders.: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit. 7 Vorträge in Torquay 1924, GA 311, Dornach 1979