Mit Stolz trägt jeder, was er hergestellt hat

Erziehungskunst | Wie sieht die Schneiderausbildung in der Hiberniaschule aus?

Bettina Pamp-Mügge | Das erste Ausbildungsjahr ist geprägt durch die Kurse des handwerklich-praktischen Unterrichtes in den Klassen 7-10 am Nachmittag. Hier sind wir an der Hiberniaschule breit aufgestellt. Der Kursbereich deckt Bereiche der späteren Ausbildungen ab, also Holz, Metall, Textil, Elektro. Darüber hinaus finden eine Vielzahl weiterer Kurse statt, zum Beispiel Netze knüpfen, Buchbinden und auch Computerkurse, Schauspiel, Zirkus und die verschiedensten Unterrichte an anderen Orten (Praktika und Fahrten) kommen ergänzend dazu. So erhalten Hiberniaschüler einen großen Einblick in die unterschiedlichsten Werkstätten, Arbeitsmaterialien und Werkzeuge. Altersgerecht werden hier schon Grundfertigkeiten angelegt und ausgebildet. Konzentration, Teamfähig­keit, Durchhaltevermögen und ein Verständnis für Arbeitsabläufe sind wichtige Voraussetzungen zur Erlangung der Berufsbildungsreife. In den Klassen 11 und 12 findet dann eine Spezialisierung statt.

Hier wird der Schüler in einem von vier Ausbildungsberufen (Maßschneider/in, Feinwerkmechaniker/in, Tischler/in, Elektroniker/in) in einer Fachausbildung, einem Gesellen gleichwertig, ausgebildet. Als nichthandwerklichen Beruf gibt es die Ausbildung zur Kinderpfleger/in. Für diesen fachlich spezialisierten Teil halten sich die ausbildenden Meister an die Vorgaben der entsprechenden Ausbildungsrahmenpläne, sodass in der Schneiderei der einzelne Schüler zum Beispiel in die Lage versetzt wird, eine komplette Oberbekleidung anzufertigen. Die abschließende gleichwertige Berufsabschlussprüfung ermöglicht es dem jungen Menschen, sich Maßschneider zu nennen. Das BIBB erteilt der Hiberniaschule hierfür nach wiederkehrenden Überprüfungen die Genehmigung. Parallel hierzu findet der allgemeinbildende Unterricht vor den Werkstattzeiten in Epochen und Fachstunden statt, dies führt nach der zwölften Klasse zum mittleren Bildungsabschluss.

Aufbauend auf diesem beruflichen und schulischen Abschluss besuchen die meisten Schülerinnen und Schüler anschließend das Hiberniakolleg, das sie zur Allgemeinen Hochschulreife führt. Diese rundet den Bildungsauftrag der Hiberniaschule ab, die Persönlichkeit der jungen Menschen umfassend zu bilden.

EK | Spielen ökologische oder ethische Gesichtspunkte in der Ausbildung eine Rolle?

BPM | In der Praxis und in den begleitenden Berufsfachkundestunden nutzen Meister sowie Fachlehrer die Möglichkeit, mit den Schülern über die Problematiken der Herkunft des Materials und der Herstellung von Bekleidung zu sprechen. Bei einer textilen Überproduktion von 40 Prozent im Jahr kommen wir nicht an Themen wie fairen Preisen und fairen Arbeitsbedingungen vorbei.

EK | Wie sind Sie technisch ausgestattet, um als Ausbildungsstätte auf dem neuesten Stand zu sein?

BPM | Wir schätzen uns glücklich, mit Näh-, Knopfloch-, Stick- und diversen Overlockmaschinen und umfangreichen Bügelanlagen, eine überaus professionelle Ausstattung vorweisen zu können. Eine Werkstatt, wie wir sie hier an unserer Schule haben, auch in ihrer Größe, ist kaum ein zweites Mal zu finden.

EK | Wie viele Schüler entscheiden sich im Verhältnis zu den anderen Gewerken für diese Ausbildung und warum?

BPM | Jedes Schuljahr werden die vorhandenen Ausbildungsplätze der fünf Berufsfelder auf die Anzahl der Schüler der drei 11. Klassen aufgeteilt. Hier kann in der Regel der Erst- oder Zweitwunsch jedes Einzelnen berücksichtigt werden. Dieser ergibt sich meist aus Neigung, Talent und Vorerfahrungen im Kursbereich.

Die endgültige Entscheidung fällt die Oberstufenkonferenz dann auch unter pädagogischen Gesichtspunkten. Es beginnen dann zwischen 20 und 24 Schülerinnen und Schüler pro Jahrgang die Schneiderausbildung.

EK | Was bedeutet die selbstgemachte Kleidung für die Schüler? Landet sie im Schrank oder wird sie im Alltag getragen?

BPM | Mit großem Stolz trägt jeder Einzelne das, was er selbst hergestellt hat. Kleidungsstücke, die ursprünglich für den Basarverkauf vorgesehen waren, werden gern von den Schülern im Vorfeld an ihre Eltern, Geschwister oder Freunde vermittelt.

EK | Gibt es einen bestimmten Typ von Schülern oder Schülerinnen, der sich für das Schneidern entscheidet?

BPM | Nein, das kann ich nicht erkennen.

EK | Gehen die Schüler später in Modeberufe?

BPM | Ja, immer mal wieder, obwohl das pädagogische Ziel der Hiberniaschule auch an dieser Stelle die Persönlichkeitsbildung ist und nicht die Ausbildung für den fachspezifischen Arbeitsmarkt.

In diesem Jahr entlassen wir zum Beispiel eine Schülerin in den Theaterbereich. Aus früheren Jahrgängen sind Schüler später in den Bereich Modedesign nach London und Kapstadt gegangen. Gern orientieren sich unsere Schüler auch im Einzelhandel und in der Industrie.

EK | Kleidung hat hohen Stellenwert bei Jugendlichen. Wie ist ihre Einstellung zu Billigkleidung und Selbstgemachtem? Hinzu kommt: Selber Kleider machen ist teurer.

BPM | Die jungen Leute verstehen sicher die Zusammenhänge von fairer Produktion von Garnen und Stoffen und haben ein starkes Empfinden dafür, was es heißt, menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen. Sie stehen aber vor dem Dilemma, dass es oft ihre momentanen finanziellen Möglichkeiten übersteigt, entsprechend verantwortungsvoll einzukaufen.

Hinzu kommt, dass die Bekleidung einem schnellen modischen Wandel unterworfen ist. Sich hier zu finden, Modetrends nicht oder nur teilweise mitzumachen, aktuelle Modemarken kritisch zu betrachten, ist dann auch ein individueller Entwicklungsprozess.

EK | Die Identifikation der Jugendlichen mit ihrer Kleidung ist hoch. Wie gehen die Schüler mit Markendruck um?

BPM | Sicherlich mag das Thema Markendruck auch an unserer Schule auftreten. Ich würde aber lieber von Markenbewusstsein sprechen: Es ist vielen Schülern durchaus wichtig, angesagte Marken zu tragen.

Wir erleben aber auch immer Schülerinnen und Schüler, die ihre Individualität mit großer Sicherheit unabhängig von Modetrends ausleben und sie gerade durch ihre Kleidung ausdrücken. In dieser Vielfalt erlebe ich tagtäglich, wie sich die Hiberniaschüler mit wachsender Toleranz begegnen.