Klein, aber epochal

Luise Alf

Im Frühling vor gut zwei Jahren stand unsere gesamte Lehrerschaft haareraufend, aber hochmotiviert vor einer großen leeren Tafel. Ausgerüstet mit Unmengen an bunten Zettelchen und beflügelt von großen Ideen, versuchten wir den Stundenplan für das kommende Jahr zusammenzupuzzeln. Dieses Jahr, zum ersten Mal, in einer ganz neuen Form.

Die Schule, an der ich arbeite, Waldorfskólinn í Lækjar-botnum, ist eine klitzekleine Waldorfschule an der Stadtgrenze von Reykjavík, der Hauptstadt Islands. Vor bald 30 Jahren wurde die Schule gegründet und sie ist die erste von zwei Waldorfschulen auf der Insel. Rund 90 Kinder und Jugendliche, vom Kindergartenalter bis zur zehnten Klasse, besuchen diese Einrichtung, die in einem kleinen Tal liegt, das von Schneebergen, Felsen und Lavafeldern umgeben ist. Mit ihren 20 Mitarbeitern ist Lækjarbotna sehr überschaubar.

Eine kleine Pionierschule in einem Land, in dem die Waldorfpädagogik relativ unbekannt ist, hat es nicht immer einfach. Doch diese Unscheinbarkeit und Kleinheit hat auch Vorteile, denn es ist verhältnismäßig leicht, gewagte Ideen in die Tat umzusetzen. Zum Beispiel die
Frage »Schule ohne Stundenplan, geht das?«

Das war unser Ziel, als wir uns im Frühjahr 2019 die Haare rauften. Wenige Monate zuvor hatte sich das Kollegium mehrere Tage in Sólheimar in Klausur begeben. Sólheimar, eine anthroposophisch inspirierte Gemeinschaft im Südwesten Islands, bot uns den perfekten Ort, um uns in Ruhe in die pädagogische Arbeit zu vertiefen. In Gruppen arbeiteten wir zu den verschiedenen Lebensaltern und den ihnen folgenden Lehrinhalten und stellten uns die Frage: »Wie könnte ein Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus aussehen, der sich noch mehr an den wirklichen Bedürfnissen der Kinder orientiert und weniger an den starren Strukturen eines Stundenplans?« Wie könnte ein Rhythmus aussehen, der den Tag zu einem gesunden Ganzen werden lässt, uns noch besser »atmen« lässt und mehr Raum für das Vertiefen von Unterrichtsthemen und menschlichen Verbindungen gibt? Wie könnte ein Stundenplan aussehen, der noch stärker lebendigen Lernprozessen dient und weniger vorgegebenen Abläufen, denen wir uns nur mit Reibung und Widerstand fügen? Wie an Waldorfschulen üblich, hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt den Morgenunterricht in Epochen unterrichtet, den anschließenden Fachunterricht jedoch im täglich wechselnden Wochenrhythmus. Nach vielem Hin-und-her-Überlegen, Diskutieren und Studieren entschieden wir uns, den ersten Schritt in Richtung Schule ohne »Stundenplan« zu wagen und auch sämtlichen Fachunterricht in Epochen zu unterrichten. Das bedeutet, dass an den meisten Tagen drei Epochen unterrichtet werden: die Morgenepoche, die Mittelepoche und die Nachmittagsepoche. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre zeigen, dass wir den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder, aber auch den Bedürfnissen der Lehrer, mit dieser Struktur einen großen Schritt nähergekommen sind. Die neue Struktur ermöglicht es, verschiedene Fächer noch befriedigender miteinander zu verbinden, Unterrichtsthemen zu vertiefen und leichter projektorientiert zu unterrichten und zu lernen. Ein Tag einer 5. Klasse könnte zum Beispiel folgendermaßen aussehen:

  • Morgenepoche: Pflanzenkunde
  • Mittelepoche: Kunst, Malen mit Wasserfarben
  • Nachmittagsepoche: Gartenbau

Hat man einmal angefangen, gibt es unzählige interessante Möglichkeiten, Epochen zu kombinieren. Als in der 8. Klasse in der Morgenepoche der Blutkreislauf besprochen wurde, konnten die Schüler in der Mittelstunde diese Bewegung eurythmisch nachvollziehen. Als dann die »Industrielle Revolution« durchgenommen wurde, lernten die Schüler später am Tag den Gebrauch der Nähmaschine und den Prozess der Kleiderproduktion. Dass sich ein Thema als roter Faden durch den ganzen Tag zieht, gelingt natürlich nicht immer. Immer wieder müssen Kompromisse und manchmal auch Notlösungen gefunden werden. Doch das ändert nichts daran, dass der Epochenunterricht auch für den Fachunterricht ein großes Geschenk ist. Unsere Handwerkslehrerin berichtet, dass es durch den Epochenunterricht für die Schüler leichter geworden ist, eine Empfindung für Prozesse zu entwickeln. Sie erleben leichter, dass sie besser werden, eine Fähigkeit entwickeln, schaffend wirksam sein und ein Projekt zufriedenstellend zu Ende bringen können.

Einige Tage nach Beginn der Epoche beginnen sie sofort mit der Arbeit ohne viele Worte. Die Aufgabe ist klar, die Lehrerin kann sich beratend im Hintergrund halten und das Material selbst wird der Lehrer. Die Klasse 10 arbeitet zum Beispiel an einer Schale aus hartem Ahornholz. Jeden Tag, wochenlang. Wird einem da nicht langweilig? Nach ihrer Meinung gefragt, ist die Antwort einstimmig: Das ist super! Die tägliche Begegnung mit dem Material führt zu einer viel tieferen Beziehung, als wenn die Schüler einmal die Woche zum Unterricht kommen. Man spürt unmittelbar die große Ruhe und die geradezu meditative Stimmung, wenn man den Werkraum betritt, was nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer nährt.

Eine weitere Beobachtung ist, dass der Epochenunterricht in den Fachstunden das Beginnen und Beenden der Stunde erleichtert. Gerade für die jüngeren Schüler besteht eine große Sicherheit darin, dass sie genau wissen, wohin sie nach der Pause gehen, dass sie am nächsten Tag wieder kommen und dass es dieselbe Person ist, der sie dort begegnen werden. Dadurch wird es leichter, die Arbeit aufzunehmen – aber auch, sie wieder abzulegen. Da derselbe Lehrer über mehrere Wochen hinweg mit der Klasse arbeitet, wird es auch leichter, Interesse zu wecken und mit der gesamten Klasse in einen Flow zu kommen. Nicht nur für Kinder, die Schwierigkeiten mit Übergängen und Veränderungen haben, ist diese Unterrichtsform ein Segen. Hatten die Klassen früher oft sechs oder sieben verschiedene Lehrer in der Woche, sind es jetzt meistens nur noch drei. Die Fachlehrer können dadurch viel effektiver an der Gestaltung der Klassenatmosphäre arbeiten oder einzelne Schüler gezielt unterstützen; auch die Zusammenarbeit der Lehrer in diesen pädagogischen Aufgaben wird dadurch ergiebiger.

Unsere Handarbeitslehrerin beschreibt, dass es entlastend ist, sich ganz auf eine Klasse einzulassen, anstatt wöchentlich die gesamte Schülerschar zu unterrichten und dass es auf diese Art leichter ist, vertrauensvolle Beziehungen zu den Schülern aufzubauen, soziale Probleme zu lösen und die Schüler im Lernprozess zu begleiten. Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten. Bei Krankheit fällt schnell ein erheblicher Teil des ganzen Unterrichtes eines bestimmten Faches aus. Dann muss getüftelt und geschoben werden, was nicht immer leicht ist, da alle Epochen zusammenhängen und ein Abweichen vom Plan alle möglichen Veränderungen nach sich zieht.

Die Realität ist oft so, dass der ideale Plan nicht umsetzbar ist und Alternativen gefunden werden müssen. Trotz allem erleben wir diese »Epochalisierung« als einen gelungenen ersten Schritt, den wir weiter entwickeln wollen und werden. Unser nächster haarsträubender Plan ist es, als Gemeinschaftsprojekt ein Torfhaus im alten Stil zu bauen. Da muss Torf gestochen, es müssen Steine geschichtet, Bäume gefällt und Nägel geschmiedet werden. An Ideen, wie wir solche Projekte in den Unterricht integrieren können, fehlt es uns nicht und mit der neuen Struktur sind weitere Abenteuer vorprogrammiert.

Zur Autorin: Luise Alf arbeitet seit sieben Jahren als Klassenlehrerin an der Waldorfschule Lækjarbotna