Selbstoptimierung im Dienste wovon?

Lorenzo Ravagli

Wir, das sind die Nutzer oder Kunden. Menschen also, die unter Optimierungsaspekten in ein weltweites Vernutzungssystem integriert werden, wenn sie erst einmal durch Registrierung und den Erwerb bestimmter Produkte in die Hölle der digitalen Ökonomie eingetreten sind. Die Rede ist hier von der Fitnessindustrie und ihren Heilsversprechen. Sie repräsentiert zwar nur einen Teilaspekt jener biopolitischen Ideologie, die unsere aufgeklärten Gesellschaften umklammert, eignet sich aber besonders gut als Exempel, weil sie die Avantgarde einer Entwicklung darstellt, die über kurz oder lang der einstigen bürgerlichen Freiheit den Todesstoß versetzen wird. Nirgends lassen sich die Bedingungen und Auswüchse der allseits gepriesenen Selbstoptimierung besser beobachten als dort, wo es um die Steigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit geht. Um uns als Nutzer in die Reihen jener Millionen einzufügen, die sich dem permanenten Zwang zur Aktivierung unterwerfen, benötigen wir nicht mehr als ein paar hundert Euro, die wir in den Erwerb eines Fitnessarmbands oder einer Armbanduhr mit Fitnessfunktionen investieren müssen. Je mehr Funktionen, desto teurer, aber natürlich auch: desto besser. Die Frage ist nur: besser für wen?

Angepriesen werden die Instrumente der Selbstvermessung tatsächlich mit dem Versprechen, uns besser zu machen. Und wer zweifelt daran, dass es besser ist, gesünder als kränker zu sein? Was hindert uns also daran, der global vernetzten Fitnesscommunity beizutreten, außer vielleicht der hohe Eintrittspreis oder die Faulheit? Die Fitnessindustrie schwimmt auf einer Welle, die von den tiefsten Sehnsüchten säkularisierter Subjekte angetrieben wird: der Hoffnung auf ein Paradies auf Erden. Wenn das Diesseits alles ist, was wir haben und keinerlei Aussicht auf ein Jenseits oder Danach besteht, dann gewinnen die Zustände des Diesseits einen exponentiellen Wert, was in der Tat paradiesische Gewinne verheißt. Und da die Generationen, auch wenn sie endlich sind, stets von neuem nachwachsen, ist das auf das Diesseits orientierte, sich selbst optimierende Subjekt tatsächlich so etwas wie das perpetuum mobile des Kapitalismus.

Smart durch die Welt

Kaufen wir also eine Smartwatch und ein Smartphone – denn ohne diese smarten Geräte gehören wir zur »verdammten Masse« (Augustinus), die sich selbst zu einem aus niedrigem Trainingszustand und skandalöser Laktatschwelle bestehenden Siechtum verurteilt. Außerdem benötigen wir die eine oder andere App, die wir auf das Smartphone herunterladen müssen – die es als Zugabe umsonst gibt – das entscheidende Instrument unserer Selbstausforschung. Und sinnvoll ist natürlich der Erwerb einer Ernährungsapp, am besten im Abo, denn was nützt das beste Fitnesstraining, wenn wir seine Errungenschaften durch die falsche Ernährung fortwährend wieder zunichte machen? 

Dass wir, so ausgerüstet, auf der richtigen Seite stehen, zeigen Gesundheitskonzerne, die für den Gebrauch solcher Apps und das treuliche Teilen der Daten, die sie sammeln, satte Rabatte gewähren. Auch unser fürsorglicher Staat unterstützt unsere Motivation durch freundliches Nudging (Verhaltenslenkung), indem er das Rauchen an öffentlichen Orten verbietet, von regelmäßigem Trinken abrät, und überhaupt alles verbietet, was Spaß macht. Nachdem wir uns die schlauen Geräte angeschafft haben – denn »smart« heißt »schlau«, auch unsere heimischen vier Wände werden inzwischen zu schlauen Behausungen aufgerüstet – hindert uns nichts mehr daran, loszulegen, außer vielleicht die Komplexität der Geräte selbst, mit ihren verschachtelten Menüs und Knöpfen, ihren handschuhuntauglichen Touchscreens oder ihrer Abhängigkeit von ständiger Stromzufuhr und mobilem Netz, das meist dann versagt, wenn wir es am dringendsten benötigen – draußen, in der Natur, wo wir uns ertüchtigen sollen. Aber von Funklöchern einmal abgesehen, sind das im Prinzip überwindbare Hindernisse.

Überwachung bis in den Tod

Haben wir alles Nötige endlich installiert und die verschiedenen Geräte miteinander, dem Laptop und der Anbieterwebseite verkoppelt, steht den Offenbarungen nichts mehr im Wege, die aus den kleinen Intelligenzbestien unablässig hervorsprudeln. Sie verfügen wirklich über beängstigende Fähigkeiten. Sie überwachen uns Tag und Nacht, vierundzwanzig Stunden, Wochen, Monate, Jahre, bis wir trotz aller Selbstoptimierung ins Gras beißen. Und sie überwachen – abgesehen von unseren Gedanken, zumindest vordergründig – alles: wann wir aufstehen und einschlafen, die Qualität unseres Schlafs, die Anzahl unserer Schritte, die Wege, die wir im Lauf des Tages zurücklegen, die Herzrate, unseren Atemrhythmus, die Sauerstoffversorgung unseres Gehirns, unsere sportlichen Aktivitäten, kurz, die gesamten physisch-physiologischen Zustände und Verläufe unseres Lebens. Was unsere Gedanken anbetrifft, so lassen sich mit Hilfe smarter Algorithmen auch diese bis zu einem gewissen Grad erschließen, geht doch aus den Messwerten hervor, wie wir unseren Tag gestalten, welche Entscheidungen wir treffen, ob wir einer sitzenden Tätigkeit nachgehen oder nicht, ob wir willensstark genug sind, ein einmal aktiviertes Trainingsprogramm durchzuhalten oder nicht. 

Und das ist noch längst nicht alles. Vorausgesetzt, wir erklären die Bereitschaft, unsere Daten zu teilen, können wir uns mit der Gemeinschaft der Nutzer vernetzen und Challenges abonnieren, durch die wir uns mit anderen zu messen vermögen. Auch für Wettbewerb, das zweite Element des alles beherrschenden extrinsischen Motivationssystems, ist also gesorgt. Millionen von anderen Fitnessbegeisterten haben damit Zugriff auf unsere private Lebensgestaltung, auf unseren Gesundheitszustand, auf unsere Neigungen und Abneigungen. Das kennen wir zwar auch von Facebook, aber dieses asoziale Netzwerk greift längst nicht so stark auf unsere physiologischen Zustände zurück, wie Fitnessapps. Füttern wir die Gesundheitsapp, die natürlich mit der Fitnessapp synchronisiert werden muss, auch noch mit unseren Ernährungsgewohnheiten, steht der smarten Totalausforschung nichts mehr im Wege. 

Nicht mehr viel trennt uns vom totalitären Überwachungsstaat. Im Moment ist es noch die privatwirtschaftlich organisierte Form der Ausforschung. Aber vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis das Gesundheitswesen aufgrund ökonomischer Zwänge privatisiert oder vollends verstaatlicht wird, was im Endeffekt auf dasselbe hinausläuft, denn dann wird die permanente Überwachung unseres Gesundheitszustandes zwingend vorgeschrieben oder mit Hilfe ökonomischer Anreizsysteme zur unverbindlichen Verpflichtung erhoben und Verweigerung schlicht unbezahlbar oder ein Privileg der Reichen. In kleinen Schritten werden wir smart an die Verwirklichung der schlimmsten Alpträume gewöhnt. Dass wir mit jeder App und jedem Gadget, die wir um eines zweifelhaften Gewinns willen nutzen, ein Stück unserer Freiheit aufgeben, entgeht unserer Aufmerksamkeit.

Zum Autor: Lorenzo Ravagli ist Redakteur der Erziehungskunst. Außerdem betreibt er einen Blog: www.anthroblog.anthroweb.info