Kollegium auf Pilgerfahrt

Johannes Rex

Ausgangsfrage für die Fahrt des Kollegiums nach Chartres war: Wie kann es uns gelingen, aus einem gemeinsamen Aufgabenideal, aus einem vertieften geistig-seelischen kollegialen Zusammenklang heraus, unsere waldorfpädagogische Arbeit zu gestalten? Die hierfür vorgesehene Grundlagenarbeit an der anthroposophischen Menschenkunde in den wöchentlichen pädagogischen Konferenzen schien nicht auszureichen. Die an unserer Schule jährlich stattfindende zweitägige Klausurtagung des Kollegiums in der näheren Umgebung Dresdens hatten wir aufgegeben, um stattdessen mit dem Ansatz »Wege zur Qualität« zu arbeiten.

Diese systematisierende, auf die Bewusstseinsbildung ausgerichtete Qualitätsentwicklungsarbeit an der Struktur des Schulorganismus ließ die Mängel in der Zusammenarbeit nur noch deutlicher hervortreten. Das Bedürfnis nach einem aus dem spirituellen Hintergrund geschöpften Leitbild für unsere pädagogische Arbeit wuchs. Ein Teil des Kollegiums, insgesamt über 30 Teilnehmer, buchte ein einwöchiges Chartres-Seminar bei Christophe Rogez. Er leitete viele Jahre das Jugendseminar in Stuttgart und bietet jetzt spirituell orientierte Reisen vor allem in Frankreich an.

Eine moderne Pilgerreise

Schon die vierzehnstündige Busreise wurde zum wohltuenden Gruppenerlebnis, mit gemeinsamem Singen und ausführlichen persönlichen Gesprächen zwischen Kollegen, von denen sich einige bis dahin nur auf beruflicher Ebene kennengelernt hatten. Jeder hatte sich mit etwas anderen Vorstellungen und Erwartungen auf die Reise gemacht. Manche waren schon mehrfach in Chartres gewesen, andere wussten noch kaum etwas mit dem Ort anzufangen. Als sich dann am fernen Horizont die Kathedrale abzeichnete, waren wir schon eine »Pilger«-Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel. Diese Reise führte uns nicht nur zu einem kunsthistorisch bedeutsamen Bau, sondern durch und mit ihm zu einem tiefen inneren und verbindenden Erlebnis.

Die Kathedrale liest sich wie ein Buch

Eine Schulklasse auf großer Fahrt ist nicht vorstellbar ohne ihren Lehrer. Christophe Marie Rogez enorme Kenntnisse, die er einer mehr als 30-jährigen Beschäftigung mit der Kathedrale verdankt, ließen uns in tiefe geistige Inhalte eintauchen. So lehrte er uns, den gotischen Kathedralbau als Buch zu lesen, dessen künstlerische, architektonische und historische Elemente sich zu einem stimmigen, spirituell wirksamen Gesamttext verbinden. Als Leitmotiv diente dabei der Begriff aus der Apokalypse, der Entschleierung, der Offenbarung des Verborgenen. Rogez abwechslungs­reiche, methodisch gut geführte Leitung ließ uns als »Klasse« in einem harmonisch ausgeglichenen Wechsel schwingen zwischen Wahrnehmen, Gespräch, Musizieren, Singen, Zeichnen, Erleben und Meditieren. Zur Steigerung der räumlichen Erlebniskraft dienten Bewegungsübungen aus der Bothmergymnastik. Momente in ritualisierter Form, wie beispielsweise das regelmäßige Verlesen eines Psalms, das stille Erwarten des Sonnenaufgangs, der von Gesang begleitete Pilgergang durch die dunkle Krypta und der in tiefem Schweigen vollzogene Gang ins Labyrinth, gaben Gelegenheit zu individueller religiöser Einkehr. In beeindruckender Weise trat neben der Weisheit der Bibel auch die Anthroposophie als Lehrmeisterin auf, welche uns vielfach die Begriffe lieferte, dank derer sich die Augen erst öffneten für das Erkennen der tieferen menschheitsgeschichtlichen und religiösen Zusammenhänge, wie sie in den Motiven der Glasfenster oder an den Skulpturenreihen der Torbögen zu finden sind.

Wir werden eine Werkgemeinschaft

Die gemeinschaftliche »Arbeit« an der Kathedrale, die jeden von uns als ganzen Menschen erfasste und forderte, brachte die Stofflichkeit der Kathedrale aus Stein, Glas und Metall als Gesamtkoposition zum Erblühen. Wir erlebten, wie sich durch unser gemeinsames Tun Kunst, Wissenschaft und Religion in lebendiger Weise zu einer höheren Einheit verbanden. Pädagogische Grundfragen in wechselndem Gewand wurden berührt: die Elemente der Geraden und der Gebogenen, die Beschränkung auf das Exemplarische, die Bedeutung der Entschleunigung, der Verzicht auf die eigenen Erwartungen, die in den Zahlenverhältnissen offenbar werdenden Entwicklungsgesetze des Menschen.

Mit der Zeit entfaltete sich in der Gruppe immer mehr Wärme. Die Gespräche bei den gemeinsamen Mahlzeiten, die gegenseitigen Schilderungen der eigenen Wahrnehmungen an den Skulpturen und Bildern, das tägliche Musizieren und Singen in der Kathedrale und die vielfältigen Begegnungen in der nicht zu knapp bemessenen Freizeit trugen nicht unwesentlich dazu bei.

So konnten wir uns als eine Werkgemeinschaft begreifen, deren pädagogisches Ideal sich am gemeinsamen Erleben, Erfahren und Erarbeiten eines menschheitlich bedeutsamen Bauwerkes bildet. In unserem Fall war es das gemeinsame Lesen im Buch der Kathedrale von Chartres.

Zum Autor: Johannes Rex ist Klassen- und Russischlehrer an der Freien Waldorfschule Dresden.

Link: www.christophe-rogez.de