Kollektive und individuelle Identität

Albert Schmelzer

Wer heute in einem städtischen Ballungsgebiet Deutschlands in eine Grundschule kommt, wird auf eine bunte Mischung von Kindern treffen, von denen zumindest ein Elternteil aus der Türkei, Polen, Russland, Griechenland, Italien, Spanien, Japan, Indien, Afrika, Amerika oder einer anderen Weltregion stammt; entsprechend sind neben christlichen und religiös indifferenten auch muslimische, jüdische, hinduistisch oder buddhistisch orientierte Familien vertreten. Wir leben faktisch in einer Gesellschaft mit kultureller und weltanschaulicher Vielfalt; unterschiedliche Lebenskonzepte und Wertsysteme existieren nebeneinander. Angesichts der Pluralität möglicher Lebensentwürfe stellt sich die Frage nach der eigenen Selbstfindung – wer bin ich? wer möchte ich sein? – mit unausweichlicher Schärfe.

Diese Frage wird in Soziologie, Psychologie und Pädagogik unter dem Begriff der Identitätsbildung intensiv diskutiert. Was ist mit diesem Begriff gemeint? Der Begriff Identität leitet sich vom lateinischen »idem« ab, was »dasselbe« oder »derselbe« bedeutet. In diesem Sinn hat der Klassiker der modernen Identitätsforschung, der Psychologe Erik Erikson, in den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Identität beschrieben als die »Fähigkeit des Ich, angesichts des wechselnden Schicksals, Gleichheit und Kontinuität aufrecht zu erhalten«. Mit der Wende zur Postmoderne sind allerdings die von Erikson aufgestellten Postulate der Einheitlichkeit und Kontinuität der Persönlichkeit in Zweifel gezogen worden. Besonders der französische Philosoph Michel Foucault hat betont, dass heutige Biographien durch Widersprüche und Brüche gekennzeichnet sind: Immer weniger erscheint Identität als Gabe, die sich als Frucht einer »normal« verlaufenden Entwicklung einstellt, sondern als Aufgabe, die täglich zu bewältigen ist. Dennoch ist die Suche nach einem in sich schlüssigen Leben, nach der »Passung« von innerer und äußerer Welt, weiterhin aktuell. Wie kann diese Suche gelingen?

Der amerikanische Politologe Samuel Huntington hat auf die Frage nach der Identitätsbildung eine eindeutige Antwort gegeben: »Was bei der Bewältigung einer Identitätskrise für die Menschen zählt, sind Blut und Überzeugung, Glaube und Familie. Menschen gesellen sich zu anderen, die dieselbe Herkunft, Religion und Sprache, dieselben Werte und Institutionen haben, und distanzieren sich von denen, die das nicht haben.« Identität, so Huntington, bildet sich durch die Identifikation mit einer Kultur, die durch ethnische Herkunft, Sprache und Religion bestimmt ist. Das Distanzieren von Fremdem ist in diesem Zusammenhang ein nicht zu unterschätzender stabilisierender Faktor: »Hassen ist menschlich. Die Menschen brauchen Feinde zu ihrer Selbstdefinition und Motivation: Konkurrenten in der Wirtschaft, Gegner in der Politik.« Was Huntington mit solchen Aussagen postuliert, ist das Konzept einer kollektiven Identität: Der Einzelne definiert sich als Teil einer sozialen Gruppe.

Was ist Fremdheit und wer ist ein Fremder?

Glücklicherweise gibt es eine völlig andere Möglichkeit, mit der Herausforderung von kultureller und religiöser Vielfalt umzugehen. Entscheidend ist dabei, welche Haltung wir gegenüber dem Fremden entwickeln. Es sei gestattet, an dieser Stelle eine persönliche Erfahrung zu schildern. Im Jahr 1966, ich war gerade sechzehn Jahre alt, stand ich vor meinem ersten Austausch mit jungen Französinnen und Franzosen aus Chartres. Da bat mich ein älterer Herr aus meiner Heimatstadt, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, auf meiner Durchreise durch Paris einem älteren französischen Herrn einen Besuch abzustatten und ein Geschenk zu überreichen. Denn er war als junger Mann nach dem Ersten Weltkrieg als Gefangener in Frankreich gewesen, hatte auf dem Bauernhof der Familie des Franzosen arbeiten müssen, aber war immer gut behandelt worden. Dafür wollte er sich bedanken.

Nun hatte dieser Franzose in späteren Jahren, während der Zeit des Nationalsozialismus, die deutsche Besatzung erlebt, er war in den Widerstand gegangen, entdeckt und nach Buchenwald deportiert worden. Er war unter denen, die dieses Konzentrationslager überlebt hatten. Seitdem hatte er mit keinem Deutschen mehr gesprochen. Aber er hatte sich brieflich bereit erklärt, mich zu empfangen. Einer der Gründe war, dass mein Vater an den Spätfolgen eines Kriegsleidens verstorben war – auch ich hatte also unter dem Krieg gelitten.

Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als ich vor seiner Wohnungstür stand. Ich war verunsichert, beklommen, auch ängstlich; ich fühlte mich als Fremder und den noch unbekannten Anderen als fremd. Und dann: ein freundlicher Empfang durch ihn und seine Tochter, Verständigungsversuche mit meinem Schulfranzösisch, eine gemeinsame Fahrt mit dem Taxi durch Paris, bei der mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt gezeigt wurden – die Fremdheit schwand zusehends. Und mehrfach wurde ein Satz ausgesprochen, den ich später immer wieder gehört habe: »Ce sont les grosses têtes, qui font les guerres« – es sind die »großen Köpfe«, die politischen und ökonomischen Eliten, welche die Kriege machen, nicht die einfachen Leute. Die angedeutete Erfahrung haben viele Angehörige meiner Generation gemacht: Frankreich und die Franzosen waren uns zunächst fremd, wurden aber – durch Reisen, Besuche und Austausch – mehr und mehr vertraut.

Ähnlich erging es uns mit den Engländern, aber auch mit denen, die zunächst als sogenannte Gastarbeiter zu uns kamen und dann doch geblieben sind: den Italienern, den Spaniern, den Portugiesen, den Griechen, den Jugoslawen, den Türken. Und wir genießen die damit möglich gewordene Vielfalt des musikalischen und kulinarischen Angebots, die uns so selbstverständlich geworden ist, dass wir einen Song der Beatles, eine Pizza oder einen Döner nun wirklich nicht mehr als »fremd« wahrnehmen. Allerdings hat sich die Situation mit der Ankunft zahlreicher Flüchtlinge aus islamischen Ländern im Jahr 2015 gewandelt, die Kategorie des bedrohlichen Fremden taucht erneut auf. Dabei sollten wir die Lektion der vorangegangenen Jahrzehnte nicht vergessen: Fremdheit ist eine Beziehungsphantasie; sie sagt wenig über den Anderen, aber viel über uns selbst aus.

In den Mokassins des Anderen

Wenn uns ein solcher Satz nicht nur zur Erkenntnis geworden, sondern ins Gefühl übergegangen ist, wird es möglich, einen entscheidenden inneren Schritt zu machen: Wir können eine individuelle Identität aufbauen. Die aber bildet sich nicht durch eine pauschale Abgrenzung vom Fremden, sondern durch eine differenzierte Auseinandersetzung: Welche anderen Werte, Lebensgewohnheiten, religiösen Überzeugungen und Praktiken erscheinen einleuchtend und erstrebenswert, was kann mich bereichern und in den eigenen Lebensentwurf aufgenommen werden? Eine solche Suchbewegung erscheint wie eine Fahrt aufs offene Meer, sie verlangt Interesse, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel; erst wer eine Weile – entsprechend dem indianischen Sprichwort – »in den Mokassins des Anderen gegangen« ist, wird ihn vielleicht verstehen lernen. Gleichzeitig wird er in den konkreten Begegnungen bemerken, dass es so etwas wie die westliche, islamische, hinduistische, buddhistische oder konfuzianische Kultur nicht gibt, wie das Huntington allzu holzschnittartig postuliert; vielmehr bestehen vielfältige Differenzierungen innerhalb einer Kultur und zahlreiche Kontakte zwischen ihnen.

Die Unterschiede zwischen einem Salafisten und einem Sufi sind allemal größer als die zwischen einem Sufi und einem christlichen Mystiker; auf dem offenen Meer individueller Identitätssuche lösen sich die starren Kategorien kollektiver Zuordnungen auf. Wer in dieser Weise das Wagnis des eigenen Weges auf sich nimmt, braucht Mut und Vernunft: Mut, weil er bereit sein muss, die Nestwärme des Kollektivs zu verlassen, und Vernunft, weil er keinen anderen Kompass hat, als sein eigenes Denken und Wahrheitsgefühl.

Der Unterricht sprengt nationale Grenzen

Hier zeigt sich, in welch starkem Maße der Aufbau einer individuellen Identität eine Frage der Bildung ist. Die Schule kann dabei unterstützend, aber auch hemmend wirken. Wie sieht in diesem Zusammenhang der Beitrag der Waldorf-Schulbewegung aus?

Richtet man den Blick auf die Waldorfpädagogik, so wird deutlich, dass sie zahlreiche Anregungen für die Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit gibt: Ein breites Bildungsangebot, das Kopf, Herz und Hand herausfordert, ermöglicht die Entfaltung vielfältiger Fähigkeiten, ein altersgerechter Lehrplan, verbunden mit einer entwicklungs­psychologisch fundierten Methodik, führt über Nachahmung und Autorität hin zu einem individuellen Urteilsvermögen.

Zudem sprengen die Unterrichtsinhalte nationale Grenzen und Beschränkungen: Ab der ersten Klasse werden Fremdsprachen unterrichtet, der Geschichtsunterricht ist nicht als Nationalgeschichte, sondern als Kultur- und Menschheitsgeschichte konzipiert, in der Oberstufe sollen Weltliteratur und Weltreligionen behandelt werden. Schon 1920 wollte Rudolf Steiner einen Weltschulverein begründen, heute existieren über tausend Waldorfschulen auf allen Kontinenten. Da ist größtmögliche Offenheit und Weite: Individualität mit Kosmopolitismus verbunden.

Fremde Schüler sind eine Chance

Anders verhält es sich allerdings mit der soziologischen Realität der Schulen. Faktisch kommt die Schulbewegung, zumindest in Deutschland, ihrem universellen Anspruch, eine Schule für alle Kinder zu sein, nicht nach. Waldorfschulen werden hier – wie empirische Studien zeigen – vor allem von Kindern aus bildungsnahen Schichten und aus sozial gut situierten Familien besucht, es gibt nur einen relativ geringen Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

Zwar kann den Schulen wegen der mangelnden Finanzierung durch die öffentliche Hand und der damit verbundenen Notwendigkeit, ein recht hohes Schulgeld zu erheben, deswegen kein Vorwurf gemacht werden. Dennoch ist die Situation bedauerlich; es muss konstatiert werden, dass damit zum einen vom Gründungsimpuls abgewichen wird – die erste Waldorfschule war eine Schule für Arbeiterkinder mit dem Ziel, den Abgrund zwischen den sozialen Klassen zu überbrücken. Zum anderen wird eine Chance vergeben, die bei einer gelingenden Pädagogik dadurch entsteht, dass zahlreiche Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule sind: die selbstverständliche Gewöhnung daran, mit Kindern und Jugendlichen anderer kultureller und religiöser Zugehörigkeit aufzuwachsen und die damit verbundene Möglichkeit, vielfältigste Anregungen für die Bildung der eigenen Identität zu bekommen und frühzeitig echte Toleranz zu entwickeln.

Wie das konkret aussehen kann, zeigt die Praxis an den Interkulturellen Waldorfschulen in Mannheim und Berlin und an den Schulen, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Ein Rückblick von Mannheimer Schülern auf ihre Schulzeit mag in diesem Zusammenhang charakteristisch sein. Sie waren bei ihrer Klassenfahrt im Süden Spaniens gewesen und hatten sich mit der mittelalterlichen Blütezeit Andalusiens befasst, bei der unter islamischer Herrschaft Muslime, Juden und Christen in relativer religiöser Toleranz zusammengelebt hatten.

Dann aber hatte die Reconquista, die christliche Rückeroberung Spaniens, begonnen; als letzte islamische Festung fiel 1492 die Alhambra in Granada. Nach der Besichtigung dieser reich ausgestatteten Burg hatten sie, der eine Christ, der andere Muslim, spät abends auf der Festungsmauer gesessen, noch lange miteinander geredet und sich gesagt: »Vor gut fünfhundert Jahren hätten wir uns hier die Köpfe eingeschlagen, heute reden wir vernünftig miteinander und sind sogar Freunde geworden.«

Zum Autor: Prof. Dr. Albert Schmelzer ist Dozent für Waldorfpädagogik und Interkulturalität an der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim.

Literatur: A. Schmelzer: Identitätsbildung in multikulturellen Gesellschaften. In: Basfeld, Martin / Hutter, Walter: Identitätsbildung im pädagogischen Prozess, Baltmannsweiler 2012