Der heimliche Terror
Die soziale Ungleichheit wächst rasant. Aus einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam geht hervor, dass 2016 ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen haben werden als alle anderen Menschen zusammen.
Diese kleine Oligarchie verfügt über »eine Macht, wie sie Kaiser und Päpste niemals besaßen«, so Jean Ziegler, Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. 500 Großkonzerne kontrollieren mehr als die Hälfte des Weltbruttosozialprodukts. Ein Fünftel der Menschheit lebt in absurdem Wohlstand. Die verbleibenden vier Fünftel müssen sich mit knapp sechs Prozent des Reichtums begnügen, der, gerecht verteilt, allen ein auskömmliches Leben ermöglichen würde. »Hunderte Millionen Menschen, quasi zur Armut verdammt, haben keine Chance, ihre Talente zu entwickeln«, meldet Oxfam. – Falls sich die Frage der Talententwicklung überhaupt stellt. Denn alle fünf Sekunden stirbt irgendwo ein Kind an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Wobei »irgendwo« immer häufiger ganz nahe liegt. So ist laut Unicef in Spanien mittlerweile jedes fünfte Kind unterernährt. Die Kinderarmut ist auch bei uns auf dem Vormarsch.
In den letzten vierzehn Jahren stieg die Zahl der hungernden Menschen von 700 auf 820 Millionen. Global operierende Banken und Großkonzerne haben maßgeblichen Anteil an der Tragödie. Ziegler redet Klartext: »Allein die Spekulationen von Finanzinstituten wie der Deutschen Bank auf Grundnahrungsmittel töten indirekt Millionen Menschen. Wir wissen, dass Großkonzerne in Afrika und Lateinamerika Menschen brutal ausbeuten und dass die Täter überwiegend in demokratischen Staaten zuhause sind.« Christel Schröder von der Organisation EuroNatur verweist auf agrarindustrielle Missstände. »Landschaften wurden zu monotonen Produktionswüsten, die Bauern zu Marionetten der Agrarindustrie. Steuerzahler subventionieren das abstruse System jährlich mit rund 50 Millionen Euro allein aus dem Haushalt der EU.« Dabei könnten »zwölf Milliarden Menschen ernährt werden«, betont Benedikt Härlin von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft. Dazu wäre es aber nötig, »das radikale Konkurrenzdenken der neoliberalen Kaste zu erschüttern, den Landraub der Großkonzerne und Hedgefonds zu beenden, die Totalentschuldung der fünfzig ärmsten Länder durchzusetzen«, so Ziegler.
Ich verabscheue die Taten islamistischer Terroristen, kann aber wenig mit dem Gerede anfangen, es seien Angriffe auf »unsere westlichen Werte«. Letztere zerstören wir nämlich selbst. »Im Süden des Planeten wachsen die Leichenberge« (Ziegler), und unsere hehre Wertegemeinschaft trägt eine große Mitschuld daran. Das ist der christlich-abendländische Terror. Er kostet mehr Menschenleben, stürzt mehr Menschen in die Verelendung als sämtliche Anschläge von Al-Kaida.
Kürzlich warb ich dafür, an Waldorfschulen einmal jährlich einen Tag des Asyls für die Oberstufe abzuhalten. Besser noch wäre ein Tag des Asyls und der Armutsbekämpfung. Denn die Dinge hängen zusammen. Viele Jugendliche haben nicht den Schimmer einer Ahnung von alledem. Es würde sie aber tief interessieren, da bin ich ganz sicher.
Literatur: Soziale Ungleichheit wächst rasant, Süddeutsche Zeitung, 20.1.2015; Spiegel-Interview mit Jean Ziegler, 5.1.2015; Zeitschrift movum / Briefe zur Transformation, Dezember 2014
Dr. Hans-Peter Gorzel, 14.04.15 11:04
Herrn Journalist Kohler,
Sicher: in unserer Gesellschaft ist die Schere zwischen Arm und Reich enorm auseinander gegangen. Ein gravierendes Problem!
Aber diese Entwicklung, die Sie reißerisch als "christlich-abendländischen Terror" bezeichnen, mit dem Terror zu vermischen, der sich täglich im Nahen Osten abspielt - tausendfacher Mord unschuldiger Menschen, Vergewaltigung, Folter, Entführungen, Zerstörung jahrtausendealter Kulturgüler - halte ich für eine schlimme journalistische Fehlleistung. Und so etwas in der Zeitschrift "Erziehungskunst" zu veröffentlichen... ich dachte bisher, wir wollen unsere Kinder zu einem ausgewogenen Urteil befähigen. Dazu leistet Ihr Artikel einen ganz negativen Beitrag. Ich bin entsetzt!
Hans-Peter Gorzel
Henning Köhler, 21.04.15 18:04
Seher geehrter Herr Gorzel,
Sie können meinen Text nicht gründlich gelesen haben. Ihrer Meinung nach behaupte ich »reißerisch«, die wachsende Kluft zwischen arm und reich in unserer Gesellschaft sei Terror. Das ist inkorrekt. Tatsächlich bezeichne ich das mörderische Treiben global operierender Finanzoligarchien und einiger Großkonzerne als Terror und lege dabei Analysen aus seriösen Quellen zugrunde. Außerdem »vermische« ich nicht die Gräuel des IS mit der wachsenden (relativen) Armut hierzulande, das wäre ja nun wirklich absurd. Vielmehr stelle ich mit Blick auf die Weltlage fest: Wir sind drauf und dran, unsere christlich-humanistischen Werte selbst zu ruinieren und sollten daher nicht ständig herumjammern, sie seien durch den islamistischen Terror bedroht.
»Das durch Unterernährung und Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen ist heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, ein skandalöser Ausdruck des Kampfes der Reichen gegen die Armen, eine Ungeheuerlichkeit, eine Absurdität, (…) ein unzählige Male wiederholtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, schreibt Jean Ziegler in seinem neuen, sehr lesenswerten Buch »Ändere die Welt«. Ziegler – Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats – spricht von einer »kannibalischen« Weltordnung (was Sie, Herr Gorzel, vermutlich „reißerisch“ finden). Ich verwies u.a. auf Nahrungsmittelspekulationen und legalisierten Landraub. Die Folgen sind erschütternd und werden sehenden Auges in Kauf genommen. Das Elend der Kinder ist unaussprechlich. Exorbitante Gewinne rechtfertigen nach Maßgabe unseres ach so hehren Wertekanons offenbar dieses Elend.
Eine aktuelle Studie der Weltbank räumt ein, dass nicht, wie bislang verbreitet, »nur« 985 Millionen Menschen unter absoluter Armut leiden, sondern 1,4 Milliarden. Die Alliance 2015, ein Zusammenschluss von Entwicklungshilfeorganisationen, schätzt die Zahl der akut vom Hungertod Bedrohten auf 850 Millionen, darunter sehr viele Kinder, und schlägt etwas sehr Einfaches vor: Die EU soll 1 Milliarde Euro, die im Agrarhaushalt überschüssig sind, gezielt für arme Bauern zur Verfügung stellen. Glauben Sie mir, das wird nicht geschehen. Westliche Werte hin, westliche Werte her. Dabei wäre 1 Milliarde aus der Portokasse zu bezahlen.
Und da wundert man sich nun, dass kürzlich in Frankfurt wieder militanter Jugendprotest aufflackerte. Dieses selbstgefällige Sich-Zurücklehnen im weichen christlich-abendländischen Wertesessel, während das keineswegs nur »hausgemachte« Elend des Südens in Gestalt fliehender Menschen gegen Europas Festung brandet (und Frau Merkel kundtut, es sei »unbefriedigend«, Tausende im Mittelmeer ertrinken lassen zu müssen) – dieser ganz normale Zynismus, der sich bei uns breitgemacht hat, ist unerträglich. Das wollte ich zum Ausdruck bringen. Und es gäbe noch vieles mehr zu sagen: über unnötige Bombenkriege, über 3000 Tote durch US-Drohnenangriffe in Obamas Amtszeit (davon die allermeisten unschuldig), über die Verseuchung ganzer (bewohnter) Landstriche durch skrupellose Ölkonzerne …
Wenn Sie meinen, sehr geehrter Herr Gorzel, es sei eine schlimme journalistische Entgleisung, darauf hinzuweisen, dass dies alles weitaus mehr Opfer fordert als der islamistische Terror (den ich zutiefst verabscheue), dann ist es neuerdings eine journalistische Entgleisung, »reißerisch« obendrein, Tatsachen auszusprechen. Übrigens: Westliche Bomben haben bisher mehr heilige Kulturgüter im vorderen Orient zerstört als der IS …
Die moralischen Grundfesten der westlichen Welt wanken. Und das liegt nicht an den Islamisten, wie PEGIDA & Co. glauben machen wollen.
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