Der sozialen Kälte widerstehen

Von Henning Köhler, September 2018

Am 23. Juli 2018 lief spät abends im Ersten der Dokumentarfilm »Das verrohte Land – Wenn das Mitgefühl schwindet«. Anhand vieler Beispiele wird belegt, dass die Hemmschwelle zur Gewalt oder zur Billigung von Gewalt sinkt.

Nicht gesellschaftliche Randgruppen stehen im Fokus, sondern »ganz normale Mitbürger«. Überall brodelt Hass. Er richtet sich, um nur einige Beispiele zu nennen, gegen Ärzte, Rettungssanitäter, Sozialarbeiter, Busfahrer, Fußballschiedsrichter, Feuerwehrleute, Politiker, Polizisten, harmlose Passanten und, natürlich, Ausländer. Am meisten hat mich erschreckt, dass Gleichgültigkeit gegenüber der Not anderer Menschen zur Normalität wird, während denen, die noch nicht abgestumpft sind, sondern helfen wollen, Verachtung entgegenschlägt. Etwas Boshaftes zieht herauf, und wir laufen Gefahr, uns langsam daran zu gewöhnen. In den sogenannten sozialen Netzwerken sind längst alle Dämme gebrochen. »Social Media tötet dein Mitgefühl«, warnt Jaron Lanier, ein desillusionierter Internet-Pionier.

Doch auch im richtigen Leben macht sich zunehmend diese Boshaftigkeit bemerkbar, an jeder Straßenecke sozusagen, ohne Anzeichen von Scham. Davon berichtet der Film. Auf dem politischen Parkett schürt gegenwärtig vor allem die Neue Rechte das Hassklima, unterstützt von einer wachsenden Zahl honoriger Sympathisanten neukonservativen Zuschnitts, darunter Dichter und Philosophen.

Doch regt sich Widerstand. Zigtausende demonstrierten dieser Tage gegen Nationalismus, soziale Kälte und Fremdenfeindlichkeit: ein Bündnis über Parteigrenzen hinweg, getragen von Sozialverbänden, Organisationen der Friedensbewegung, Gewerkschaften, kirchlichen Gruppen. An vielen Orten bilden sich jetzt solche »bunte Allianzen«. Die Zivilgesellschaft lebt.

Der Film Das verrohte Land brachte mich nur deshalb nicht um den Schlaf, weil ich mir kurz zuvor einen anderen angesehen hatte: Papst Franziskus von Wim Wenders. Diese – zugegeben, etwas suggestive – Studie über das Denken und Wirken des 1936 in Buenos Aires geborenen Jorge Maria Bergoglio, der als erster Papst und mit Bedacht den Namen Franziskus wählte, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Ein Manifest der Herzensgüte, aber auch des heiligen Zorns. Papst Franziskus überzeugt als Mensch, Philosoph und Theologe. Er sagt alles, was zu sagen ist: über den Raubtierkapitalismus, über die ökologische Katastrophe, über das Flüchtlingselend, über Jugendideale, über Freiheit und soziale Verantwortung, über Toleranz, Barmherzigkeit, Sünde und Vergebung … und immer wieder über Kinder. Kein Zweifel: Das Wohlergehen der Kinder bedeutet ihm mehr als alles andere, sein Schmerz darüber, wie viel Leid ihnen zugefügt wird, ist greifbar.

Hier lebt der eigentliche, authentische Geist von »1968« auf – fünfzig Jahre später und ausgerechnet durch die Worte, die Haltung eines Papstes. Wenders, selbst ein Achtundsechziger, hat das intuitiv erfasst, obwohl es an keiner Stelle ausgesprochen wird. Alle Oberstufenschüler sollten Papst Franziskus sehen. Ihnen dieses Zeitdokument vorzuenthalten, wäre ein arges Versäumnis.

Literatur: Jaron Lanier, Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018

Kommentare

Heinz Grill, 28.09.18 11:09

Zum Artikel von Henning Köhler „Der sozialen Kälte widerstehen“

Die sehr bewegten aufbruchfreudigen Zeiten der 68er Jahre, mit ihrem Drängen nach Veränderungen, hatten schon einen sehr unterschiedlichen Charakter verglichen mit den Gefühlen und Worten, die heute ein Papst Franziskus von sich gibt. Damals waren Menschen mit klarer emotionaler Überzeugung tätig und lehnten sich wenig an Konventionen und allgemeingültigen Normen an. Wenn man das Wort „authentisch“ in seiner möglichst tieferen Bedeutung hinterfrägt, so könnte man eine gedankliche Authentizität, eine emotionale und schließlich eine in der ganzen Person befindliche oder willentliche Authentizität gewissermaßen in einer Art Steigerung sehen. Authentisch ist jener, dessen Handlungen und Gedanken zusammenstimmen und wenn diese sogar eine geistige universale Bedeutung haben, so würde man wohl von einer reifen und wahren Persönlichkeit sprechen. Kann man dies bei Papst Franziskus in wenigstens einem einzigen Punkt sagen? Legt man die Worte sehr genau auf den Prüfstein, beobachtet man die Person und erwägt die Zusammenhänge einer etwas weiter gefassten Logik, in denen die Worte von Papst Franziskus gesprochen werden, kann man nicht anders reagieren, als Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten zu entdecken und nicht zuletzt wird man sich der hervorragenden Suggestionen mit raffiniertem Propagandacharakter bewusst. Wird nicht das Wohlergehen der Kinder vorgeschoben um Sympathien zu erwerben? Authentische Worte müssten im logischen Zusammenhang stehen und mit einem geistigen wahren Inhalt korrespondieren. Wo ist aber der Inhalt in Form von tätigen Lösungen, außer derjenigen, dass der Papst eine Art Missstand bekundet und dadurch weltoffen, gerecht und mitfühlend erscheint? Die Problemlösungen müssen dann die Anthroposophen, die als Sekte betrachtet werden, bringen. Der Film sollte deshalb wohl besser mit prüfendem, analytischem und kritischem Blick betrachtet werden, um der Gefahr zu entgehen, auf die kirchliche Propaganda, die ganz besonders mit Papst Franziskus, der eigentlich in Wirklichkeit Jesuit ist, hereinzufallen.
Heinz Grill

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