Die Inklusion wird scheitern

Henning Köhler

Der politische Wille zu durchgreifenden Reformen in Richtung einer wahrhaft inklusiven Pädagogik fehlt. Ansätze echter geistiger Durchdringung des Themas gibt es, doch sie sind dünn gesät und weitgehend wirkungslos.

Inklusion war schon Gegenstand anderer K.-Kolumnen. Trotzdem möchte ich mich noch einmal dazu äußern. Und sei es nur, um zur Klärung der Gründe des absehbaren Scheiterns beizutragen.

Kürzlich sorgte der Fall eines Jugendlichen mit Trisomie 21 für Aufsehen. Er hatte das Abitur geschafft. In einer TV-Talkrunde waren alle schwer beeindruckt, so nach dem Motto: Hört, hört! Sogar aus solchen Kindern kann etwas werden! Es sei eben gelungen, aus diesem Jungen »alles herauszuholen«, sagte eine Expertin. Sie sprach von optimaler individueller Förderung. Da schrillten bei mir die Alarmglocken. Schon wegen der Misshandlung des Begriffs individuell. Die Welt der ›Normalen‹ zwingt den ›Unnormalen‹ eine demütigende Konkurrenz um Wertschätzung auf. Menschen mit Behinderungen gelten als Inklusions-Vorzeigeexemplare, wenn sie innerhalb des Regelwerks der gemäß Selbsteinschätzung Nichtbehinderten hinreichend bis überraschend gut funktionieren. Gelobt seien unter euch die, denen es am besten gelingt, uns ähnlich zu werden. Das ist ein grundlegendes Missverständnis.

Inklusion wird beharrlich mit Sozialisation (›Eingliederung in die Gesellschaft‹) verwechselt. Man bewertet benachteiligte Menschen anhand konventioneller Leistungs- und Verhaltensnormen, stellt eine Mängeldiagnose und will dann »alles aus ihnen herausholen«, was sie instand setzt, diese Normen einigermaßen zu erfüllen. Letzteres entspricht dem alten Leitbild anpassungsorientierter Integration, nicht aber dem Ethos der Inklusion.

Solange wir uns von exkludierenden Denkgewohnheiten leiten lassen, kann inklusive Praxis nicht gelingen. Es verbietet sich, Menschen in Güteklassen einzuteilen: Auf der einen Seite defizitäre Individuen, sortiert nach Grad und Art ihrer Defizite, auf der anderen Seite wir, die Nichtdefizitären. Das ist mentale Exklusion. Altes Denken. Unzulängliche Kinder gibt es nicht.

»Im Mittelpunkt unserer Hilfesysteme steht die Behebung des an fremder Normalität gemessenen Mangels. Das auffällige Kind ist ein Mängelwesen. Der Mensch als Individualität gerät dadurch an den Rand.« So lautet die kritische Bilanz einer 2002 von der Windrather Talschule veranstalteten Tagung zum Thema »Integration als Ausgangspunkt neuer Schulkonzepte«. Damals fiel schon das Wort Inklusion als Hoffnungszeichen. Vier Jahre später kam die CRPD. Gebessert hat sich nichts. Im Gegenteil. Der Fehlerfahndungsblick ist Pflicht geworden. Benachteiligte Kinder müssen krankgeschrieben werden, um einen Anspruch auf Inklusionshilfe zu haben. Und ich fürchte, in Waldorfkreisen regt sich wenig Widerstand dagegen.

www.windrather-talschule.de/pdf/tagungsbericht