Durchschauen, was das Menschenwesen eigentlich ist

Sven Saar

Am siebten Tag des Kurses erläutert Steiner einige Aspekte des Erkennens: Wir verstehen etwas nur unzureichend, wenn wir es in Isolation betrachten. Ein Buchenblatt allein ist uns weniger zugänglich als das gleiche Blatt im Kontrast zu einem Birkenblatt oder gar einer Fichten­nadel: Der Kontrast macht alle drei Objekte deutlicher.

Vergleichen wir das Kind mit dem reifen Erwachsenen, bemerken wir, wie stark der Wille dominiert: Jede Gefühlsäußerung impulsiert beim Säugling eine körperliche Bewegung: Der Zweijährige wirft sich voller Wut auf den Boden, der Erstklässler springt seiner Lehrerin vor lauter Liebe in die Arme. Die emotionalen Impulse des alten Menschen sind weniger mit dem Körperlichen verbunden: Ihn reißt so schnell nichts vom Hocker. Durch seine vielen Erfahrungen gelingt es ihm besser, Sinnesein­drücke einzuordnen und Gefühle über bildhafte Vorstellungen zu Gedanken werden zu lassen. (»Wie interessant, das erinnert mich an ein Erlebnis ...«)

Eine unserer biografischen Entwicklungsaufgaben ist die allmähliche Loslösung des Gefühlslebens vom Wollen und seine Verbindung mit dem Denken. Steiner bittet die zukünftigen Lehrer, den Kindern auf diesem Feld dabei zu helfen, ihre Spontaneität in gefühlsbetontes Denken umzuwandeln – damit sie im Alter einst weise werden können. Wie wohltuend ist es, im Kollegium eine altersmilde Kollegin zu haben, die angesichts der täglichen Stürme und Kleinkrisen einsichtsvoll schmunzelt und geduldig wartet, bis man sie um Rat fragt ... Das vergleichende Betrachten, das zum Erkennen hinführt, wird mit den Kindern zum Beispiel in der Menschen- und Tierkunde der vierten Klasse geübt. Sie beginnt mit dem Wahrnehmen der menschlichen Gestalt: Von Beginn an werden Aspekte miteinander in Beziehung gesetzt. Form und Funktion des runden, ruhenden Kopfes verstehen wir besser im Vergleich mit den ausstrahlenden, sich stets in Bewegung befindlichen Gliedmaßen. Zwischen ihnen hat die Brust eine vermittelnde, soziale Rolle: Hier findet der Austausch mit der Umwelt statt, im ständigen Wechsel von Ruhe und Bewegung. Im Raum vor dem Herzen haben die Hände des Menschen ihr Zuhause: Während die Gliedmaßen des Tieres immer dem Körper dienen müssen, lebt die menschliche Hand im sozialen Bereich. Mit ihr sind wir frei, uns über die eigenen Bedürfnisse hinwegzusetzen.

Am Ende des Kurstages warnt Steiner ausdrücklich vor dem Bloßstellen einzelner Kinder vor der Klasse. Seiner Zeit weit voraus, ist er prinzipiell gegen traditionelles Strafen und setzt das Wiedergutmachen klar vor das Büßen. Schon zwei Tage zuvor hat er – möglicherweise schmunzelnd – den werdenden Lehrern gesagt, dass die Gründe für Ungezogenheiten der ganzen Klasse wohl immer bei den Lehrern zu suchen sein werden – so benehmen sich Kinder, wenn sie Langeweile haben.

Auch persönliche und soziale Probleme einzelner Kinder sollen immer mit Takt und Phantasie gelöst werden. So wirkt man pädagogisch: nicht als Rechthaber zwischen Tür und Tafel, sondern als verständnisvoller, einfallsreicher Begleiter des werdenden Menschen.