Gabe und Fluch – hochsensible Kinder

Henning Köhler

Eine nicht zu unterschätzende pädagogische Herausforderung stellen die sogenannten hochsensiblen Kinder dar. Hochsensibilität ist noch weitgehend unerforscht. Sie als Krankheit oder psychische Störung zu deuten, lehnen alle Fachleute ab. Trotzdem kann therapeutische Hilfe erforderlich sein, denn Hochsensibilität birgt zwar große Potenziale, wird jedoch oft verkannt oder pädagogisch zu wenig berücksichtigt. Kühnen Schätzungen zufolge sollen rund zwanzig Prozent aller Menschen mehr oder weniger von Hochsensibilität betroffen sein.

Die zuerst 1997 von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron detailliert beschriebene Symptomatik weist Ähnlichkeiten zum sogenannten ADHS und zum Asperger-Syndrom auf, entspricht aber auch in vieler Hinsicht dem Bild, das spirituell orientierte Autoren von »Indigo-Kindern« oder »Sternkindern« zeichnen. Ferner vermutet man einen Zusammenhang mit Hochbegabung und Synästhesie.

Einige häufig zu beobachtende Symptome sind eine subtile, detailreiche Wahrnehmung bei gleichzeitiger Schwierigkeit, sich gegen Reizflut abzuschirmen, eine lebhafte Phantasie, die Fähigkeit zu komplexen Gedankengängen und ein ausgeprägtes Interesse an Spirituellem.

Die Betroffenen sind beim Zusammensein mit vielen Menschen überfordert. Sie empfinden intensiv die Stimmungen anderer Menschen mit und kompensieren dies durch eine starke Introvertiertheit. Sie neigen zu Überinterpretationen des Verhaltens anderer Menschen und reagieren unverhältnismäßig. Ihre Berührungs- oder Schmerzempfindlichkeit ist erhöht. Bei Leistungsdruck und Zeitknappheit treten rasch Stressreaktionen auf. Sie sind schreckhaft, auch bei konfrontativer Ansprache. Hochsensible haben ein starkes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe. Bei Schlafmangel, Hunger und Durst besteht geringe Belastungstoleranz. Sie leiden unter Versagensängsten aus Sorge, den eigenen (oft hochgeschraubten) Erwartungen nicht zu genügen, und leiden unter einer an Zwanghaftigkeit grenzenden Akribie. Generell haben sie Angst vor Veränderungen. Starke Gerüche, hoher Lärmpegel, flackerndes Licht oder kratzende Kleidung und Ähnliches lösen Panikgefühle aus.

Was kann aus anthroposophischer Sicht zu einem vertieften Verständnis dieser Wesensverfassung beitragen? Es handelt sich bei Hochsensibilität nicht um ein Defizit, sondern um eine Gabe – die allerdings auch zum Fluch werden kann. Waldorfschulen sollten für diese Kinder ein »salutogenes Milieu« bieten. Wer hat Interesse, zusammen mit dem Janusz-Korczak-Institut eine Fachtagung »Hochsensibilität« zu planen?

Literatur: Elaine N. Aron: Das hochsensible Kind, München 2008; dies.: Sind Sie hochsensibel?, Heidelberg 2007; Siegfried Woitinas: Wer sind die Indigo-Kinder?, Stuttgart 2011; Georg Kühlewind: Sternkinder, Stuttgart 2009; Henning Köhler: War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?, Stuttgart 2013