Gesellschaft statt Nation

Henning Köhler

Viele Vordenker der »geistig-moralischen Wende« (CDU-Slogan) wandten eine Diskursstrategie an, die Christian Baron am Beispiel eines bekannten Autors, dessen Namen ich hier höflicherweise verschweige, treffend beschrieb: »Sich fälschlich in der Minderheit wähnend, poltert er gegen eine behauptete Mainstreammeinung, und sein Heulen mit den Wölfen klingt wie das verzweifelte Bellen eines unterdrückten Terriers.«

Die neokonservativen Kulturkämpfer beklagen eine herbei­fantasierte antiautoritäre Kulturhegemonie und treten als Retter tradierter Werte auf. Zu ihren großen Themen gehört der Patriotismus. Ich rieb mir damals die Augen, als plötzlich landauf, landab erörtert wurde, ob und warum ein Deutscher stolz darauf sein könne/solle, Deutscher zu sein.

Inzwischen beantworten hierzulande rund 85 Prozent die Nationalstolzfrage mit ja. Doch der Gegenstand patriotischer Seligkeit ist eine Schimäre. Nationalstaaten sind Kunstgebilde in willkürlich gezogenen und ständig sich verändernden Grenzen. »Die Deutschen« als ethnisch homogene Volksgruppe gibt es nicht. Deutschland als hermetischen Kulturraum zu definieren, entbehrt jeder faktischen Grundlage. Begriffe wie »nationale Identität« oder »deutsche Leitkultur« zerrinnen, sobald man sie näher untersucht. Außerdem mangelt es wahrlich nicht an historischen Gründen, jedweder Deutschtümelei tief zu misstrauen.

Rudolf Steiner hielt Vorträge über die »Mission einzelner Volksseelen«. (Einiges, was dort ausgeführt wird, hinterlässt mich ratlos.) Er wetterte aber auch gegen nationalistische Umtriebe, begrüßte den Niedergang alter »gruppenseelenhafter« Identitäten. Wenn ich ihn recht verstehe, sind die einst als Hüter des Volkstums wirksamen hohen Geister nunmehr bestrebt, das Zusammenwachsen der Menschheit im Zeichen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit voranzubringen. Heute geht es darum, zeitgemäße Formen demokratischer Selbstorganisation in pluralistischen, kosmopolitisch offenen, vielfältig miteinander verflochtenen Gesellschaften zu entwickeln. Die völkische Verheißung ist eine gefährliche Mogelpackung. Man kann heimatver­bunden sein. Man kann traditionelle Kulturgüter pflegen. Man kann sich gegen die Zertrümmerung der Mutter­sprache wenden. Aber bitte ohne »Nationalstolz«.

Das Gift des neuen Nationalismus wabert schon lange durch Europa. Nicht erst seit der »Flüchtlingskrise«. Diese fördert nur zu Tage, was bis dahin unterschwellig gärte. Auf einer pädagogischen Tagung in der Schweiz, wo ich Vorträge hielt, war das anthroposophische Nachrichtenblatt Agora ausgelegt. Gleich einleitend erklärt die Herausgeberin, Antinationalismus sei schlimmer als Nationalismus. Dann lobt ein Autor den unsäglichen Jürgen Elsässer, Herausgeber der rechtsextremen Postille Compact. Das macht mir Angst.

Weihnachten naht. Das Fest der Allgemeinen Menschenliebe. Unseren Kindern bleibt nichts verborgen, was wir denken.