Gesunder Menschenverstand

Sven Saar

Im sechsten Vortrag der »Allgemeinen Menschenkunde« verschiebt sich die Perspektive: War zuvor die menschliche Seele das Hauptthema, wendet Rudolf Steiner sich in den folgenden Vorträgen dem Geist zu, der uns zunächst noch weniger zugänglich ist. Denken wir, befinden wir uns sozusagen im Licht – wir sind, wenn auch bildhaft, voll bewusst. Von Stefan Leber stammt der schöne Aphorismus: »Das Licht ist gleichsam die Außenseite dessen, was als Innenseite den Gedanken hat.« Der Wille ist dagegen viel geheimnisvoller: Selbst seine elementaren Formen, zum Beispiel das Gehen, entziehen sich fast völlig unserem Bewusstsein. Versuchen Sie einmal Folgendes: Sie gehen ein oder zwei Schritte und beschreiben dabei einem Freund bis ins Kleinste jeden Bewegungsimpuls. Der schreibt das möglichst leserlich auf. Dann wechseln Sie die Rollen und nun schreitet Ihr Freund – er darf allerdings nur jene Bewegungen ausführen, die er selbst gerade aufgeschrieben hat. Sie diktieren ihm dabei die Abläufe. Wenn Gehen unter diesen Bedingungen überhaupt funktioniert, ist es linkisch und mühsam, denn wir sind im praktischen Leben darauf angewiesen, dass unser Bewegungsleib ohne wache Anteilnahme funktioniert. Steiner weist darauf hin, dass es uns furchtbare Schmerzen bereiten würde, wären wir uns der Vorgänge in unserem Verdauungssystem bewusst. Der Wille schläft also, während wir im Denken ganz wach sind. Dazwischen lebt unser Gefühl wie in einem Traumzustand: nicht ganz wach und nicht ganz unbewusst. Wir kennen unsere Gefühle wie unsere Träume: Sie sind vorübergehender, flüchtiger Natur und entziehen sich der genauen Beobachtung. Hier ist nicht nur das nächtliche Träumen gemeint, sondern auch das halbautomatische, sanfte Tasten, das in aller Aktivität, bei allen kognitiven Anstrengungen immer mitschwingt – sozusagen die Akkordbegleitung zwischen Rhythmus und Melodie.

Das Überbewerten des Denkens durch die Wissenschaft führt zu seltsamen Auswüchsen, die Steiner als Systematisierungswahn bezeichnet: Er zitiert eine ausführliche Studie, deren Ergebnis zeigt, dass Studenten ein Lesestück besser behalten können, wenn sie seinen Sinn verstehen. Solche Forschungsergebnisse schätzt man besonders, wenn man dem gesunden Menschenverstand nicht vertraut: Um der Meinung zu sein, dass ausgeschlafene Kinder besser lernen, muss man gelehrte Studien zitieren können, die das empirisch nachweisen. Das mag kulturell seinen Nutzen haben, kann aber auch als Zeitverschwendung betrachtet werden. »Ein Erzieher muss das Leben tiefer betrachten können«, sagt Steiner im methodischen Vortrag. Dazu gehört die Erkenntnis, dass zukünftige Impulse in der Kindesseele ebenso einen Platz haben wie kognitive Inhalte: So manches erschließt sich dem Kind erst mit der Zeit. Daher ist es zum Beispiel wichtig, dass Lehrer das Kind über möglichst viele Jahre begleitet: So können wir das pädagogische Prinzip umsetzen, dass sich nicht alles, was es hört, seinem wachen Bewusstsein gleich erschließen muss. Der Morgenspruch der Waldorfschulen ist ein gutes Beispiel: Über die Jahre entwickeln sich durch willensbildendes, wiederholtes Tun tiefere Schichten des Verstehens. Daher ist es auch gut, ihn gelegentlich altersgemäß mit den Kindern zu besprechen und nicht nur als träumerisch erlebtes Ritual zu pflegen.