Helden braucht es heute

Henning Köhler

Auf dem Jugendbuchmarkt boomen düstere Zukunfts­romane. Teils spielen die Geschichten in Zeiten nach einer großen Katastrophe, teils malen sie mehr oder weniger glaubhaft aus, was uns blühen könnte, wenn der Hightechkapitalismus alle moralischen Schranken durchbricht; oder wenn aus vorgeschobenen Sicherheitsgründen die Bürgerrechte beseitigt werden. Erzählt wird von Gesellschaften, in denen die Instrumentalisierung des Individuums perfektioniert ist; von neuen Kolonial- und Kasten-Systemen; von Faschismus-Varianten, deren Perfidie darin besteht, dass sie eine wohltemperierte Normalität vorgaukeln; von materiell privilegierten Minderheiten, die, völlig entrechtet, in abgeschotteten, aseptischen Höllen leben und sich einreden lassen, es seien Paradiese, während jenseits der Absperrungen das nackte Elend herrscht; oder einfach vom Verfall der Demokratie, nicht irgendwann, sondern demnächst, vielleicht – wenn wir so weitermachen –, schon morgen.

Keine Hoffnung also? Doch. Jugendliche Helden erwachen aus der Agonie dumpfen Mitläufertums und ringen um ihre Würde. Auch unter den Bedingungen extremer Entfremdung bricht sich die Sehnsucht nach Freiheit, Liebe und Wahrhaftigkeit in ihnen Bahn. Sie leisten Widerstand.

Sensationelle Erfolge feiert Suzanne Collins Trilogie Die Tribute von Panem. Jugendliche werden zu Gladiatorenkämpfen wie im alten Rom gezwungen. Unter geschickter Ausnutzung ihrer medialen Popularität bringen sie ein despotisches Regime zu Fall. – Unverhohlene Gegenwartsbezüge stellt Cory Doctorow her, der in Little Brother erzählt, wie die USA nach einem Terroranschlag zum Polizeistaat mutieren. Junge Netzpiraten initiieren eine verfassungspatriotische Bewegung, die ungeahnte Wirkung entfaltet. – In Legend, Fallender Himmel von Marie Lu freundet sich die Eliteschülerin und angehende Geheimagentin June mit dem legendären jugendlichen Desperado Day an. Zwischen ihnen entbrennt eine große Liebe, June schlägt sich auf die Seite des Widerstands. – Andreas Eschbachs Trilogie Hide Out / Black Out / Time Out befasst sich mit der Zukunft von Facebook und Co. Eine Bewegung namens »Kohärenz«, gesteuert von mächtigen Global Players, will die Gehirne aller Menschen zu einem einzigen Supergehirn vernetzen. Das autonome Subjekt, als Ursache alles Schlechten geschmäht, soll bald der Vergangenheit angehören.  Die wahre Absicht: Steuerung des Konsumverhaltens. Jugendliche vereiteln den Plan. – Weitere Beispiele: Spiegelkind von Alina Bronsky, Die Bestimmung von Veronika Roth, Liberty 9 von Rainer M. Schröder, Die Verratenen von Ursula Poznansky, Memento von Julianna Baggott. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Das Grundmuster der Romane: Verstörendes Großpanorama, tröstliche Nahaufnahmen. Die (vielleicht unbeabsichtigte) Botschaft: Wir gehen schlimmen Zeiten entgegen, doch aufrichtige Herzen, vorzüglich Jugendherzen, werden’s dann schon richten.

Na ja. Am liebsten würde ich all diesen Büchern (Little Brother muss man hier ausnehmen) den Schlusssatz hinzufügen: Damit keine Missverständnisse aufkommen – empört euch heute!