Mensch – beweg Dich!

Henning Köhler

Lehrer wie Eltern der Schule rätseln, warum es den Jugendlichen so eklatant an Lernmotivation mangelt. Rebellische Töne blieben aus, abgesehen von der Bemerkung eines kecken Mädchens gleich zu Beginn des Workshops: In puncto Unmotiviertheit sollten sich gewisse Lehrer mal an die eigene Nase fassen. (Der Saal applaudierte.) Ansonsten schälten sich vier Punkte heraus: Differenziertere Unterrichtsformen gemäß den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der Schüler. Auflockerung des altersgruppen- genormten Unterrichts. Mehr soziales Miteinander. Und etwas scheinbar ganz Banales: »Warum bewegen wir uns so wenig? Warum sitzen wir immer?«

Das Thema wurde breit diskutiert. Nach und nach zeigte sich: Es ging gar nicht so sehr um den (erwiesenermaßen der Konzentration abträglichen) Zwang zum Dauersitzen auf Stühlen. Mehr Sport? Ja, vielleicht, aber eher nicht im schulischen Rahmen. Mehr Eurythmie? Hmmh. Stampf- und Klatschübungen während des Unterrichts? Geschenkt. Ideen wie die, mit Lehrern eine mehrtägige Fahrradtour zu unternehmen und abends am Lagerfeuer Mathe zu lernen, ließen schon eher aufhorchen, aber damit waren wir immer noch nicht beim Kern der Sache. Das Gefühl des Bewegungsmangels schien tiefer zu liegen. Es zu konkretisieren, fiel schwer.

Ich musste an Joseph Beuys denken: »Mensch = Der Sich-Bewegende«. In dem Wort Bewegung steckt sowohl das Substantiv Weg als auch das Adverb weg: sich entfernen. Bewegung weist etymologisch auf lat. vehere (= führen) zurück, sowie auf lat. vehiculum (= Wagen) und altindisch vahitra-m (= Schiff). Das ist doch interessant! Sich selbst führen, eigene Wege gehen, Steuermann/Steuerfrau sein, Segel setzen, in die Ferne schweifen … klassische Sehnsuchtsbilder des Jugendalters. So kreisten wir in Wahrheit um die Freiheitsfrage. Und damit indirekt auch um das Motivationsproblem. Andernorts hat mir ein Sechzehnjähriger einmal gesagt: »Als Schüler muss man Vorgaben erfüllen. Auch in der Waldorfschule, obwohl die schon okay ist. Man hat manchmal das Gefühl, Eigeninitiative würde nur stören.« Deshalb sollten wir uns über das immer mehr sich zuspitzende Problem der Verwechslung von Pädagogik mit methodisierter Fremdbestimmung Gedanken machen. Die schleichende »Enteignung individueller Lebensschicksale« (Gerhard Schweppenhäuser) beginnt schon früh. Man stiehlt kleinen Kindern ihre eigene Zeit. Sogar das »Freispiel« wird zum Programmpunkt.

Der Wahrnehmungsinhalt des Bewegungssinnes lässt sich auf einer höheren Ebene als »das Gefühl des eigenen freien Seelischen« bezeichnen (Rudolf Steiner). Permanent von außen gesteuert zu sein (sogar in der Phantasie, im Denken), schwächt ihn mindestens so sehr, wie mangelnde körperliche Aktivität. Man schiebt gern alles auf die Medien. Aber exzessiver Medienkonsum ist oftmals eine Folge des bezeichneten Problems, nicht seine Ursache.