Pillen, die das Kind verändern

Henning Köhler

Ganz allgemein geht es um das Problem des »Human Enhancement«. Damit sind »alle medizinischen und biotechnologischen Interventionen [gemeint], die darauf zielen, Menschen in einer Weise zu verändern, die in den jeweiligen soziokulturellen Kontexten als Verbesserung wahrgenommen wird, deren Zielsetzung nicht in erster Linie therapeutischer oder präventiver Art ist«. Durch medi­kamentöse Maßnahmen mit dem Ziel, Kinder an gestiegene gesellschaftliche Leistungserwartungen anzupassen, »ändert sich auch das Menschenbild«, warnt die Kommission. Gleichzeitig »erfährt das ärztliche Ethos einen bedenklichen Wandel«. Die »Toleranz gegenüber Anders­artigkeit« stehe auf dem Spiel.

Ich zitiere weiter: »Besondere Aufmerksamkeit verdient das Enhancement bei Kindern«, insbesondere die Verschreibung von Psychopharmaka unter dem Vorwand, »nur ›das Beste‹ [für sie] zu wollen«, wobei »›das Beste‹ oft mit Blick auf das zukünftige Leben in der Gesellschaft definiert wird«. Die Diagnose ADHS sei deshalb problematisch, weil sich »die Standards verschoben haben, welche Verhaltensweisen eines Kindes sozial verträglich und ›normal‹ sind – oder eben als krankhaft eingestuft werden.« Eine große Rolle spiele dabei die Erwartung, »dass sich Kinder im Kindergarten und in der Schule angepasst verhalten«. Folglich: »Der Konformitätsdruck, unter dem Kinder [heute] stehen, erzwingt einen Standard von Normalität, der die Toleranz gegenüber Kindlichkeit abnehmen lässt.«

Die diagnostische Allzweckwaffe ADHS und der scheinbar durch sie gerechtfertigte massenhafte Einsatz von Psychopharmaka als Zeichen für schwindende Toleranz gegenüber Kindlichkeit! Das ist seit 20 Jahren meine Rede. Die Quittung war teilweise mutwilliges Missverstehen. »Köhler lehnt Diagnosen ab«, hieß es. Wie käme ich dazu. Die Schweizer Medizinethiker geben »aus ethischer Perspektive« zu bedenken, welche Schwierigkeiten »die Abgrenzung zwischen normalen und krankhaften kindlichen Verhaltensweisen« gerade aufgrund der erwähnten Standardverschiebungen bereite.

Der Kommissionsbericht mündet in den bemerkenswerten Satz: »Die NEK-CNE plädiert dafür, die Lebensverhältnisse den Interessen und Bedürfnissen der Kinder anzupassen.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Links: www.nek-cne.ch | www.adhs-konferenz.de

Hinweis:

Vom 16.-19.5.2012 findet in der Freien Waldorfschule Erftstadt die Tagung »Ratschlag ADHS« mit hochkarätigen wissenschaftskritischen Referenten statt, veranstaltet vom Freien Bildungswerk Rheinland, dem Nürtinger Janusz-Korczak-Institut und gesundheit aktiv. E-Mail: rausch@fbw-rheinland.de