Poetisches Zeugnis

Henning Köhler

Im Unterschied zu Phantasmagorien erheben Mythen einen Wahrheitsanspruch. Es sind Konzepte der Weltdeutung. »Seelenkundliche« Abhandlungen in bildhafter, poetischer Form. Auch unter Poesie wurde ursprünglich nichts Wahrheitswidriges verstanden, sondern dasjenige, was das Allgemeingültige, sprich die Wahrheit erst hervorbringt (Aristoteles).

Vor rund 200 Jahren ging man dazu über, die Wissenschaft zur poesiebereinigten Zone zu erklären. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Auch Goethe klagte: »Nirgends will man zugeben, dass Poesie und Wissenschaft vereinbar seien.« Novalis befand sogar: »Jede Wissenschaft wird Poesie (…), nachdem sie Philosophie geworden ist.« Philosophie heißt Weisheitsliebe.

Das Seltsame an der so poetischen wie weisheitsvollen Erzählung von Bethlehem ist: Wer sie zum ersten Mal hört, kennt sie schon. Man muss kein Christ sein, um zu bemerken: Da wird nichts Unbekanntes erzählt! Man glaubt, sich zu erinnern, hat das Gefühl, dabeigewesen zu sein als stiller Zeuge. Eine seltsame Stimmung zwischen Glück und Wehmut kommt auf. Und es stimmt ja: Die Geschichte ist freudig und traurig zugleich. Sie lehrt uns neben vielem anderen: Wer tiefe Freude erfahren will, kommt nicht umhin, sich auf die Traurigkeit einzulassen. Erzählt wird von Armut, Not, Dunkelheit. Und von einem unverhofft hereinbrechenden Licht. Kurz: Bethlehemische Stimmung hat wenig bis nichts mit dem Happy-Christmas-Getöse der Konsumgesellschaft zu tun.

Auch Kinder haben am Heiligen Abend, bei aller freudigen Erregung, melancholische Anwandlungen. Bei ihnen spielt ein Gefühl des Verlustes hinein, das sich auf etwas unweigerlich Verdämmerndes oder Verklingendes bezieht. Ich war fünf, als es begann, und ich nahm mir fortan jedes Jahr zu Weihnachten vor, niemals in meinem Leben dürfe jenes Verdämmernde ganz verdämmern, jenes Verklingende ganz verklingen.

Mir standen diese Gedanken als Gedanken natürlich nicht zur Verfügung. Vielmehr beschloss ich wider alle Vernunft, erstens groß werden zu wollen, klar, und zweitens auf jeden Fall ein Kind zu bleiben. Immer. Ungefähr zwischen 14 und 28 geschah es dann doch: Die Himmelpforte war verriegelt und verrammelt, Weihnachten entzaubert. Bis meine Kinder sie für mich wieder aufschlossen.

Ich möchte allen Eltern ans Herz legen, das Fest der Feste richtig feierlich zu gestalten. Schließlich heißt es stille Nacht, heilige Nacht, nicht Pakete-Auspack- und Süßigkeitenver­tilgungs-Nacht mit anschließendem Familienkrach.

Das Ritual der Bescherung ist sinnvoll – als Teil einer stimmigen Gesamtkomposition. Natürlich macht es jeder auf seine Weise. Die Christgeburtsgeschichte darf aber keinesfalls fehlen. Und ein kurzes gemeinsames Gedenken an alle armen, hungernden Kinder dieser Erde gehört, wie ich meine, auch dazu.