Produziert Waldorf Siegertypen?

Henning Köhler

Familie L., in bescheidenen Verhältnissen lebend, war eine »Waldorf-Familie«. Das besagt, für sich genommen, noch nicht viel, man kann anthroposophische Erziehungsgrundsätze vertreten und trotzdem (oder gerade deshalb) fürchterlichen Bockmist bauen. Doch diese Eltern machten unserer Pädagogik wirklich alle Ehre.

Wie liebevoll, umsichtig und engagiert sie das Leben mit den Kindern gestalteten, ohne soziale Wärme mit Verhätschelung zu verwechseln, verdiente Bewunderung. Beide stimmten übrigens darin überein, dass Kinder viel Zeit zum Spielen brauchen, vorzüglich in freier Natur; und dass es tragisch ist, wenn schon im Bewusstsein der Sieben-, Acht-, Neunjährigen die Worte Spielen und Lernen grundverschiedene Bedeutungen haben.

Familie S. gehörte der von Abstiegsangst geplagten wohlhabenden Mittelschicht an. Vater wie Mutter verfolgten ehrgeizige berufliche Ziele, denen sie alles andere unter-

ordneten. Der Erziehungsstil war autoritär, leistungsbetont, pragmatisch: eine komfortable Variante der Kindesvernachlässigung. Äußerlich lief alles wie am Schnürchen, die Fassade glänzte, der Rubel rollte, doch das Kostbarste fehlte: Geborgenheit. Die Geschwister wussten, was man von ihnen erwartete, und hielten sich daran: Sie hatten zu funktionieren, vor allem in der Schule. Natürlich war auch die »Freizeit« durchgeplant (Tennisstunden, Gesangsunterricht, Reiten), und das investierte Geld sollte gefälligst auch Resultate erbringen.

Beide Kinder von Familie L. galten als Sorgenkinder. Der Junge war extrem verträumt, wurde mehrfach psychologisch untersucht, erhielt diverse Therapien, experimentierte als Jugendlicher mit Drogen, schaffte nur den Hauptschulabschluss, brach zwei Lehren ab, absolvierte lustlos einige Praktika, bis er schließlich im Beruf des Landschaftsgärtners Erfüllung fand. Das hoch sensible Mädchen litt jahrelang unter Anorexia nervosa, brach die Schule ab, holte später den mittleren Abschluss nach und wurde Buchhändlerin. Noch heute gerät sie immer wieder in seelische Krisen, fängt sich aber allmählich.

Die Kinder von Familie S., ebenfalls ein Junge und ein Mädchen, gaben ihren Eltern nie Anlass zur Sorge, machten das Abitur mit links, legten glänzende Studienabschlüsse hin, wirken heute stabil und selbstbewusst. Sie ist Kunsthistorikerin, er Rechtsanwalt.

Angenommen, Frau und Herr L. zögen nun, mit einem neidischen Seitenblick auf Familie S., das Resümee, ihre ganze Mühe sei umsonst, vielleicht verfehlt gewesen – was würden Sie, liebe Leserinnen und Leser, antworten? Ein Vorschlag: »Waldorfpädagogik erhebt nicht den Anspruch, die Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft mit Siegertypen zu beliefern. Wir sind von einem tieferen Ethos als dem des bravourösen Verlaufs der äußeren Dinge geleitet.«

Siehe dazu auch den Leserbrief: »Siegertypen und tieferes Ethos« und Henning Köhlers ausführliche Erwiderung darauf