Revoluzzer-Herz

Mathias Maurer

Henning Köhler war ein Kämpfer für das Kind – vor allem für das benachteiligte. Zugleich decouvrierte er schonungslos den defektologischen Blick allzu bemühter pädagogischer, therapeutischer und medizinischer Helferlein. Er traute dem Kind selbst unter widrigsten Umständen ein Entwicklungspotenzial zu, als wäre jedes ein Kaspar Hauser – und würdigte es damit. Der Michel von Lönneberga – die personifizierte soziale Zumutung – wurde gar zu einem namensgebenden Titel einer seiner meistgelesenen Publikationen, in der er dem Mythos des aufmerksamkeitsgestörten Kindes und seiner Pathologisierung entgegentrat. Und er litt darunter, wenn das eine oder andere als nicht mehr be(waldorf)schulbar zu ihm in die Heilpädagogisch-Therapeutische Ambulanz im Janusz-Korczak-Institut in Nürtingen kam.

Henning Köhler war Heilpädagoge und ein zoon politikon. Erziehungsfragen waren für ihn immer auch gesellschaftliche und politische Fragen. Ich erinnere mich, wie er Michael Winterhoffs »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« und Bernhard Buebs »Lob der Disziplin« filetierte, ganz im Geist eines Erich Fromm und seiner Analyse des autoritären Charakters. Wenn nicht die Frankfurter Schule um Adorno, dann der Achberger Kreis der sozialen Dreigliederer und Künstler um Beuys, Dutschke, Schilinski und Schmundt formte aus ihm den »individualistischen Anarchisten«. Einen mehr inneren Weg fand er um Pär Ahlboms »Intuitive Pädagogik«, die nicht zuletzt in seinem kürzlich erschienenen Beitrag »Der Mensch als Virusträger und als Ichträger« in »Ein Nachrichtenblatt« eine Art christliche Vertiefung findet. Eine Woche vor seinem Tod schickte er mir in den Osterferien ein langes Manuskript mit dem Titel »Mit Kindern Leben gestalten in der Corona-Krise – Ein Elternbrief – Und ein Wort an die Jugendlichen«, in dem er den Eltern zurief, sich weiterhin als »Handelnde [zu] erleben; als Gestalter*innen ihres Lebens und des Lebens der Kinder« und nicht die »Zauberworte aller Pädagogik« zu vergessen: »soziale Wärme und soziale Schönheit«.

Die ursprünglich für diese Ausgabe vorgesehene – nun letzte Kolumne von Henning Köhler veröffentlichen wir online. Darin rief er zu gemeinsamen Ostermärschen mit der Friday for Future-Bewegung gegen Abrüstung und Atomwaffen auf. Er meinte, dass Waldorfschulen sich aus der Parteipolitik heraushalten sollten, aber nicht aus zentralen ethischen, humanitären Fragen. Und er schrieb weiter: »Wenn der Bund der Freien Waldorfschulen nächstes Jahr zur Teilnahme an den Ostermärschen aufrufen würde, wären mit Sicherheit viele Oberstufenschüler begeistert dabei. Eltern und Lehrer hoffentlich auch.«

Nun ist Henning Köhler auf seinen geistigen Ostermarsch gegangen.

So danke ich ihm und bitte ihn weiterhin um Begleitung von der »anderen« Seite.

»Es könnte einen ethischen Minimalkonsens geben, eine Verständigungsebene inmitten der babylonischen Sprachverwirrung unserer Zeit, über alles ideologische Gezänk, alle religiösen und weltanschaulichen Grenzen hinweg: Liebe zu Kindern.

Völliger Verzicht auf Gewalt gegenüber Kindern. Sozialgestaltung nach Maßgabe des Kindeswohls. Das ist der Schlüssel. Die Ethik unter dem bethlehemischen Stern ist christlich im tiefsten Sinn und gerade deshalb überkonfessionell. Wer von Christus nichts hören will, dem kann man auch sagen: Schau ein Kind an, schau es wirklich an, und du begegnest dem Wunder, dass in dir die Möglichkeit zur selbstlosen Liebe schlummert.«

Henning Köhler (1951-2021)