Solidarisiert Euch!

Henning Köhler

Die Zahl der Kindesmisshandlungen sank Jahrzehnte lang kontinuierlich, seit einigen Jahren steigt sie wieder an. Armutsforscher schlagen wegen der wachsenden Kinderarmut Alarm. Immer mehr Familien mit Kindern werden obdachlos. In keinem anderen EU-Land hängen die Bildungschancen der Kinder so stark von ihrer sozialen Herkunft ab wie bei uns.

Eine aktuelle Studie der Uni Koblenz kommt zu dem Resultat, dass die Jugendämter hoffnungslos überlastet und lausig ausgestattet sind, personell wie finanziell. Freie Anbieter würden liebend gern Abhilfe schaffen, doch immer, wenn es darum ginge, Bedürftigen zu helfen, ist angeblich Ebbe in den Kassen. Und viele glauben das auch noch.

Soeben gewann die Greifswalder Martinsschule den Deutschen Schulpreis: für ihre vorbildliche Umsetzung der Inklusion. Schulleiter Benjamin Skladny wollte sich zuerst gar nicht bewerben. Seine Kritik am deutschen Schulsystem ist hart. »Wenn innerhalb eines solchen Systems Preise vergeben werden, weiß ich nicht, was dabei herauskommen soll.« Er stimmte dann doch zu – in der Hoffnung, sein Modell möge Nachahmer finden. Ich hoffe mit ihm. Dann würde vielleicht die Schulangst zurückgehen. Wussten Sie, dass eine wahre Schulangst-Epidemie ausgebrochen ist? Doch wen kümmert’s. Unter »Schulreform« verstehen die Bildungsplaner immer nur eines: Erhöhung des Drucks, Verschärfung der Selektion. Schwächelt ein Kind, muss man ihm Beine machen. Zum Beispiel mit Medikamenten.

Das gilt nicht nur für Deutschland. Der renommierte US-Psychologe Jerome Kagan sagt: »Jedes Kind, das in der Schule schlecht ist, wird heutzutage zum Kinderarzt geschickt, der diagnostiziert ADS und verschreibt Ritalin. Dabei haben 90 Prozent der Kinder auf Ritalin, gar keinen gestörten Hirnstoffwechsel.« Der französische Psychiater Gérard Pommier: »In unserer Gesellschaft stehen Kinder oft unter einem enormen Leistungsdruck. Wer da nicht mitkommt, gilt schnell als defizitär.

Zutiefst verstörend an der AD(H)S-Geschichte ist, dass es wieder die Kinder trifft. Immer und überall waren es Kinder, die als Erste unterdrückt, geschlagen, diszipliniert wurden.« Pharmazeutische Disziplinierung ist gang und gäbe. Auch bei uns. Entgegen anderslautenden Gerüchten nimmt die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen nicht zu, im Gegenteil, aber Angst und Erschöpfung greifen um sich. Und nun? Ich bin, offen gestanden, manchmal ratlos. Vielleicht bleibt uns nur, konsequent dafür zu sorgen, dass im eigenen Laden – womit ich die Waldorfschulen meine – ein anderer, wirklich ganz anderer Wind weht. Da bliebe freilich einiges zu tun.

Eltern, Lehrer, solidarisiert euch mit den Kindern, für die Kinder! Gegen das Klima der Angst! Schafft soziale Wärme! Benachteiligte zuerst!

Zum Thema Gewalt unter Kindern: Die sicherste aller Welten, Spiegel 19/18. Zum Thema Überforderte Jugendämter: Süddeutsche Zeitung, 15.5.18. Zum Thema AD(H)S-Ritalin: Für alles eine Pille, Le Monde diplomatique, Mai 18, sowie H.-R. Schmidt (Hrsg.): Modediagnose AD(H)S. Eine kritische Aufsatzsammlung. Frankfurt 2018 (mit einem Beitrag von mir). Alle andere Informationen sind allgemein bekannt.