Unfreilerner

Birte Müller

Für mich war das eine Horror-Vorstellung, meine Kinder den ganzen Tag im Haus zu haben! Sie nerven mich einfach irgendwann.

Unseren behinderten Sohn Willi können wir ja bis heute nicht aus den Augen lassen. Er hat die Größe und die Kräfte eines Teenagers, gepaart mit dem Geisteszustand eines Zweijährigen in der Trotzphase. So sehr ich ihn liebe – aber würde er nicht zur Schule gehen, müsste ich leider durchdrehen! Mit unserer unbehinderten Tochter dagegen bekamen wir erst Probleme, als sie zur Schule kam. Olivia verweigerte schon in der ersten Woche das gleichgeschaltete Lernen theoretischer Inhalte – wobei man auch noch still am Tisch sitzen sollte. Nach einem Jahr Grundschule war mir völlig klar, warum man auf einen einsamen Berg in die Schweiz ziehen will!

Unsere Tochter stand durch den Zwangsbesuch der Schule psychisch so stark unter Druck und unser Familienleben war so massiv gestört, dass ich mich regelmäßig bei dem Wunsch ertappte, sie nicht weiter in die Schule zu schicken.

Während andere zu mir sagten: »Wie schafft ihr das bloß mit einem behinderten Kind?«, dachte ich: »Wie schafft ihr das bloß mit der Regelschule?«

Ich mutmaßte oft, ich könnte Olivia mit viel mehr Spaß in viel kürzerer Zeit viel mehr und viel wichtigere Dinge beibringen. Aber was für ein Leben sollte das für unsere Tochter sein, ohne andere Kinder? Und was für ein Leben sollte das für mich sein, ohne meine Arbeit?

Seit Wochen sind nun die Schulen wegen Corona geschlossen. Immerhin – so dachte ich –  wenigstens können wir nun mal ausprobieren, wie das Lernen ohne Schule bei uns klappt.

Die ersten zwei Wochen klappte dann aber erstmal gar nichts, da Willi – all seiner Strukturen und Routinen beraubt – hier zuhause komplett durchdrehte. Nebenbei mit Olivia entspannt Schule machen? Unmöglich! In der dritten Woche durfte Willi – Schule sei Dank – in die Notbetreuung gehen.

Dann startete es aber immer noch nicht, das begeisterte Lernen mit Mama. Ich weiß nicht, wie ich so bescheuert sein konnte, Homeschooling mit freiem Lernen zu verwechseln!

Ich soll ja nur der Sklaventreiber sein bei der Umsetzung von Aufgaben, die ich nie selber so stellen oder so bearbeiten würde. Da quälten wir uns freudlos durch das Material zum Thema Steinzeit und erst als ich Olivia endlich in Ruhe ließ, saß sie im Garten und stellte sich einen Faustkeil her. Mit Papa versuchte sie den restlichen Vormittag über, ein Feuer ohne Streichhölzer anzuzünden – und obwohl es nicht klappte, war von Frustration keine Spur. Olivia war so motiviert, dass sie mit ihrem Faustkeil ein Wildschwein gehäutet hätte – aber leider hatten wir keines da und unsere Kaninchen wollte sie dann doch nicht nehmen.

Es nervt mich, hier zuhause Schule machen zu müssen,ohne es so machen zu dürfen, wie ich es will. Aber als wir uns abends ehrfürchtig ein winziges Stockbrot teilten – aus Körnern, die Olivia in stundenlanger Arbeit mit zwei Steinen gemahlen hatte – war es mir fast egal, dass die beknackten Arbeitsblätter immer noch leer waren. Nur, wann ich eigentlich selber arbeiten soll und wie unser toller Tag im Garten zum Thema schriftliche Division oder Zeichensetzung bei wörtlicher Rede aus­sehen soll, das weiß ich leider immer noch nicht ...