Wärmeorte

Matthias Braselmann

Ein Grund zu feiern? Sicher noch nicht in Tempodrom und Liederhalle – aber doch selbstbewusst und hoffnungsvoll.

Welche Ziele verfolgt eine inklusiv arbeitende Waldorfschule? Ein Anliegen ist es, die Schule zu einem Wärmeort zu machen, einem Ort, an dem jedes Kind spürt, dass seine Begabungen erkannt und gefördert und seine besonderen Anlagen in der Gemeinschaft fruchtbar werden. Kinder wollen fühlen, dass sie reich und wirksam sind und dass die Anderen ihren Reichtum und ihre Wirksamkeit wahrnehmen.

Wir wissen wohl, dass der Weg noch lang und die zurückgelegte Wegstrecke nur kurz ist. Doch es lohnt sich, auch die kleinen Errungenschaften zu würdigen: Viele junge Schulen beginnen heute von Anfang an mit heterogenen Klassen, erfahrene Kollegien leben bereits eine inklusive Schulkultur, viele Studierende können sich ihre Berufstätigkeit nicht mehr ohne Inklusion vorstellen, an Seminaren und Hochschulen werden methodische Ansätze gelehrt, die zu echter inklusiver Pädagogik führen können.

Jeder auch noch so kleine Schritt führt uns weiter. Denn die Not der Kinder – und der Lehrer – ist auch heute noch groß. Immer noch gilt unvermindert, was Henning Köhler schon 1994 ausgesprochen hat: »… alles in allem jedoch sind die Ausgrenzungen von Kindern, die nicht der Norm entsprechen, ein bedrückendes Kapitel, das nicht einzelnen Lehrern anzulasten ist, sondern auf der übergeordneten Ebene grundsätzlicher Gestaltungsfragen … dringend einer Lösung zugeführt werden müsste. Denn es wird in Zukunft nicht weniger, sondern immer mehr Kinder geben, die einerseits einer besonderen Förderung bedürfen, andererseits nicht allesamt an Spezialschulen oder Heime weitergereicht werden können (und dürfen), schon weil sie gar nicht in die üblichen Behinderungskategorien passen, aber auch aus allgemeinen menschlichen Gesichtspunkten. Mit anderen Worten: Die Regelschule wird sich zur integrativen, partiell heilpädagogischen Schule entwickeln, ob wir es wollen oder nicht, und es stünde der Waldorfschule gut zu Gesicht, wenn sie mit Konzepten für diese unaufhaltsame Entwicklung nicht hinterherhinken, sondern … vorauseilend Zeichen setzen würde.«

Er, der bis heute unseren Blick lenkt auf die, die nicht passen, hatte schon damals recht: Nach einer Aufstellung der Abteilung Bildungsdaten und Bildungsanalysen besuchten im Jahr 2019 insgesamt 831 Schüler mit anerkanntem Förderbedarf 192 verschiedene Waldorfschulen – und zwar ohne die offiziellen Heilpädagogischen Schulen oder Schulen mit heilpädagogischem Zweig! Ist das im Sinne Köhlers schon ein (gutes) Zeichen? – Eine ganz schön große Zahl ist es immerhin.

In diesem Sinne: Vorauseilend Zeichen setzen – für die nächsten 75 Jahre!

Zum Autor: Matthias Braselmann ist Klassen- und Fachlehrer an der Windrather Talschule und Mitglied des Arbeitskreises Inklusion