Waldorf und die soziale Spaltung

Henning Köhler

»Es wird berichtet, dass es eine wachsende Zahl von Milliardären gibt, aber nicht, wie es den anderen geht; stolz wird vermeldet, dass wir auf Vollbeschäftigung zusteuern, aber nicht, wie sie durch schlecht bezahlte Leih- und Zeitarbeit erkauft wird.« Kleiner Einwand: Meldungen über die wachsende soziale Spaltung in unserer angeblich alternativlosen »marktkonformen Demokratie« (Angela Merkel) findet man schon, teils von überraschender Seite. So heißt es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Oktober 2017: »Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand. Wer einmal arm ist, bleibt lange arm.« Lange? Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass immer häufiger gilt: »Wer unten ist, bleibt unten.«

Gewiss werden wir von den sogenannten Leitmedien mit Halbwahrheiten gefüttert. Andererseits lassen sich die bitteren Fakten hinsichtlich der sozialen Frage nicht unterschlagen. Wer will, kann sie finden. Doch daran besteht offenbar kein breites Interesse. »Wie konnte ein gesellschaftlicher Konsens geschaffen werden, große Bevölkerungsteile aus der Gemeinschaft ›auszusortieren‹ und [dies] jahrelang zu negieren?«, wundert sich Ronald Thoden.

Die BRD zählt zu den Industrienationen mit der größten sozialen Ungleichheit. Das reichste eine Prozent verfügt hierzulande über so viel Vermögen wie 87 Prozent der Lohnabhängigen zusammen. Im vergangenen Jahr wuchs das Vermögen des einen Prozents um 20 Prozent, während die Armutsquote auf 15,7 Prozent stieg. Immer mehr Menschen, darunter auch solche in Arbeit (»working poors«) werden obdachlos. Altersarmut greift um sich. Und immer mehr Kinder (aktuell ca. 20 Prozent) sind von Armut betroffen.

Mathias Rude redet Klartext: »Wenn sich der CDU-Politiker Friedrich Merz, der eine Million im Jahr verdient, für drastische Senkungen der Hartz-IV-Regelsätze einsetzt, ist das ein Schlag ins Gesicht von Millionen Menschen.« Und ein Beispiel für »umgekehrten Sozialneid«, wie ich es nenne: Die Reichen neiden den Armen noch deren letzte Kröten. Nicht einmal das soziokulturelle Existenzminimum für Kinder ist vom Phänomen des umgekehrten Sozialneids ausgenommen. »Ein weitgehend entfesselter Kapitalismus nährt […] unsägliche Ungleichheiten«, schreibt der anthroposophisch orientierte Sozialforscher André Bleicher. Demokratische Prozeduren erwiesen sich »allzu oft nur als schwache Verhüllung« dieser sozialethischen Regression

Das Jubeljahr »Waldorf 100« ist ausgebrochen. Wo steht unsere Bewegung in den gegenwärtigen sozialen Auseinandersetzungen? Wir dürfen nicht vergessen, dass es zwischen der Waldorfpädagogik und der sozialen Frage einen innigen Zusammenhang gibt. Auch Steiners Aktivitäten für die »Dreigliederung des sozialen Organismus« jähren sich zum hundertsten Mal. Ihre Wiederbelebung tut Not.

Literatur: Nicht mehr raushalten. Interview mit Konstantin Wecker, in: Melodie & Rhythmus, 1/2019 | 
Kinderarmut ist in Deutschland oft ein Dauerzustand. https://www.bertelsmann-stiftung.de | Wer unten ist, bleibt unten, Süddeutsche Zeitung (SZ.de), 16. Mai 2018 | R. Thoden: Nachrichtenmagazin Hintergrund, 4/2017, Editorial | Oxfam-Armutsstudie 2018. https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/soziale-ungleichheit | M. Rude: Riss durch die Gesellschaft, Nachrichtenmagazin Hintergrund, 4/2018 | A. Bleicher: 100 Jahre Einsamkeit, Sozialimpulse, Dezember 2018