Kühne Pläne schmieden

Henning Köhler

Radikale Bildungskritiker sagen, die Institution Schule sei eine zivilisatorische Fehlentwicklung: Struktur gewordene pädagogische Ignoranz. Nicht einmal die Annahme, methodische Wissensvermittlung durch Unterrichtspläne hebe das allgemeine Bildungsniveau, halte einer gründlichen Überprüfung stand. Anke Caspar-Jürgens schreibt in ihrem Buch Lernen ist Leben: »Unser eigentliches Wissen verdanken wir dem ›nebenbei‹ Erlernten. Es ist ein Wissen, das uns zuflog, weil wir es gerade jetzt brauchten, weil wir neugierig darauf waren.« Intrinsisch motiviertes Lernen, meint die Autorin, werde im Schulbetrieb nicht nur nicht gefördert, sondern abgewürgt.

James Herdton formulierte es noch drastischer: »Niemand lernt etwas in der Schule, aber die Kinder lernen genügend woanders und lassen uns dann in dem Glauben, dass die Schule ihnen etwas beigebracht hätte.« Jede Schulstunde eine vergeudete Stunde, die außerhalb der Schule besser hätte genutzt werden können? Ganz so weit würde ich nicht gehen. Sicher lernen Kinder etwas von ihren Lehrern. Aber weitaus weniger, als man gemeinhin glaubt. Untersuchungen zeigen, dass nur zehn bis maximal dreißig Prozent des Unterrichtsstoffes wirklich bei den Schülern ankommen. Das heißt im Umkehrschluss: Sie sitzen 70 bis 90 Prozent ihrer Schulzeit desinteressiert und demotiviert ab.

Ob der angeborene Lerneifer des Kindes durch Beschulung tatsächlich in produktive Bahnen gelenkt wird, wie es sich Generationen von Bildungshumanisten erträumten, ist jedenfalls sehr fraglich. Und die Lage spitzt sich zu! »Schule ist für Kinder mit Abstand der Stressfaktor Nr. 1« lautet das Resümee des LBS-Kinderbarometers 2016. Weitblickende Zeitbeobachter sahen diese Entwicklung voraus. Der angesehene Psychiater Reinhard Lempp kündigte schon 1975 an, unser Schulsystem entwickle sich »zum führenden pathogenen Faktor für Verhaltensstörungen«. Everett Reimer, ein Vordenker der Deschooling-Bewegung, schrieb 1971 das Buch Schafft die Schule ab. Befreiung von der Lernmaschine. Im selben Jahr erschien Ivan Illichs berühmte Streitschrift Entschulung der Gesellschaft. Entschulung! Heute klingt das irrwitzig. Aber warum? Lesen Sie mal Illich! Seine Argumente waren nie so aktuell wie heute.

Die Zwangsbelehrungsanstalten müssen durch wahrhaft freie Lern- und Lebensorte ersetzt werden. Es gibt keine andere Erfolg versprechende Strategie zur Wappnung kommender Generationen gegen den überall um sich greifenden Hass. »Wir dürfen nicht tyrannisieren und dogmatisieren, was durch die geistigen Anlagen der Kinder aus unbekannten Tiefen in das Leben hineingetragen wird«, sagte Rudolf Steiner auch mit Blick auf bevorstehende soziale Erschütterungen.

Die Waldorfbewegung hat ein Erfolgsmodell zu verwalten, auf das sie stolz sein kann: Es ermöglicht, mitten im Falschen doch einiges richtig zu machen. Aber der visionäre Geist darf nicht erlahmen. Schmieden wir kühne Pläne! ‹›