Mit der Dampflok durchs ehemalige Österreich-Ungarn
Der Zug geht mit acht blauen, ehemaligen DB-1.-Klasse-Wagen, einschließlich Bar- und Speisewagen, gezogen von einer historischen Dampflok des Typs 78 auf die Strecke. Die Älteren haben sie in den fünfziger Jahren noch auf den Hauptstrecken sehen können. Beim Start in Salzburg ist der Bahnsteig 1 ein Magnet. Für eine gleichmäßige Verteilung der Massen sorgen die Wiener Eurythmietanzgruppe »Vonnunan« mit Stabübungen und eine Blasmusik. Fasziniert ist man von der schwarzen Lok, die eben keine Black-Box ist, sondern zeigt, was in ihr steckt. Da sinnt der philosophisch veranlagte Zeitgenosse der Frage nach, ob es sich bei dieser Lok nicht doch um ein »Lebewesen« handelt: Es muss gefüttert und getränkt werden, hat also einen »Stoffwechsel«, schnaubt, keucht, faucht und zischt, atmet rhythmisch und plötzlich erschrecken alle Nahestehenden durch ein unerwartetes Niesen … Die Fahrt geht los, ausgebucht mit 163 Passagieren aus fünfzehn Ländern, erinnernd an die damals modernste Technologie, mit der Rudolf Steiner aufwuchs, da sein Vater bei der Eisenbahn beschäftigt war.
Anlass der Fahrt ist die Begründung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft vor 90 Jahren im schlesischen Koberwitz. Dort hielt Rudolf Steiner ein Jahr vor seinem Tod die grundlegenden Vorträge, die zur ersten und damit ältesten und bis heute konsequentesten ökologischen Landwirtschaft mit der Markenbezeichnung »Demeter« führten. Eigentlich sollte der Zug auch nach Koberwitz (Polen) fahren, doch scheiterte der Versuch an den Logistikproblemen vor Ort. Vielleicht wird es ja in zehn Jahren einen »RST 163« nach Koberwitz geben. Den Organisatoren dieser Reise, Vera Koppehel und Peter Daniell Porsche, ist die Realisierung zuzutrauen.
Kulturgut – Ernährung
Kulturgut ohne Ernährung? – Das geht nicht. Letztere ist eine wesentliche Grundlage und ihre Verflechtung mit dem kulturellen Schaffen ist Thema der gesamten Reise. Vertreter aller Richtungen beleben den Express: Musiker, Landwirte, Lehrer, Wissenschaftler, Unternehmer, Ärzte, Journalisten, Studenten. Während der jeweils zehnstündigen Hin- und Rückfahrt gibt es laufend Angebote mit Themen zu den verschiedenen Gebieten und Möglichkeiten zu Gesprächen in Gruppen, nicht nur im Speise- oder Barwagen. Viele neue Kontakte und Netzwerke entstehen. Da ist der Oberbürgermeister der slowenischen Stadt Maribor zugestiegen. Schließlich hat er in seiner Stadt eine Waldorfschule und so ist es für ihn eine Herausforderung, die pädagogische Arbeitsgruppe zu begleiten. Dann unüberhörbar der geniale Geiger Miha Pogacnik. Er erfüllt den akustischen Äther in einer Bahnhofshalle ebenso wie im Barwagen und sorgt am Ziel für einen Höhepunkt: mit dem slowenischen Sinfonieorchester »Camerata Labacensis«. Alle Disziplinen achten darauf, sich im Zusammenhang zu sehen. So entsteht das Bild einer Ganzheit, die kulturstiftend und schaffend zusammenwirkt. Das ist besonders deutlich in der Landwirtschaft sichtbar, ist doch die Ernährungsfrage hochaktuell geworden.
Durch den vermehrten Anbau von Hybriden geht die Sortenvielfalt verloren. Dadurch gewann die biologisch-dynamische Arbeitsgruppe (Saatgut AG) an Bedeutung mit dem Projekt »Kultursaat« nach der Devise: »In einem Samen steckt viel Kernkraft«. Ihr ist es bis jetzt gelungen, 55 Sorten Getreide als »Kulturgut« zur Verfügung zu stellen. Aufsehen erregte auch der Bericht zur Qualitätsentwicklung. Im Weinbau breitet sich die biologisch-dynamische Landwirtschaft derzeit stark aus. Das Besondere besteht darin, dass Wein kein Lebens-, sondern ein Genussmittel ist. Aber gerade in diesem Zweig der Landwirtschaft spielt die Qualitätsfrage die größte Rolle. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit dieser spezielle Qualitätsanspruch vom Genuss(mittel) auf das Leben(smittel) übertragen werden kann.
Steiner war kein Feind der Technik
In Pamhagen am Neusiedler See an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn fanden sich Menschen zusammen, die Landwirtschaft mit Pädagogik verbinden wollen. Daraus entstand auch eine Waldorfschule, die nun weitere Interessenten aus Österreich und Ungarn anzieht. Diese haben täglich mit dieser Grenze zu tun, weil ständig bürokratische Hürden genommen werden müssen. Für einige Menschen ist der Grenzgänger zum Lebensthema geworden. Grenzen trennen, schließen aus oder ein. Sie zu überschreiten oder gar aufzuheben, führt Menschen zusammen.
Mit der Landwirtschaft hat es begonnen, die Pädagogik hat die Gemeinschaft erweitert. Mauern werden abgerissen und verschwinden, auch die nicht sichtbaren in den Köpfen. Hier arbeiten Pioniere für einen Weg in die Zukunft – jenseits des Mainstreams der Urbanisierung, wie er sich als Trend in den Ballungsräumen abzeichnet.
Auch die Technik ist ein – oft als störend, daher als feindlich empfundener – Faktor der kulturellen Entwicklung, was auch in anthroposophischen Zusammenhängen erlebt werden kann. Rudolf Steiner fuhr nicht in einem Kleinwagen, sondern in einem Maybach und in seinen Mysteriendramen hat er der Technik in der Figur Straders eine wichtige Rolle zugewiesen. So waren die Darstellungen der von Paul Schatz ausgehenden Erfindungen zum »Umstülpbaren Würfel« und zum »Oloid« eine hochinteressante Bereicherung. Diese Entwicklung steht an der Schwelle zur industriellen Anwendung, was an Hand der gezeigten Beispiele für den Bereich des Energiewandels erklärt werden konnte.
Steiners Geburtsort
Rudolf Steiner hat sich diesen Ort für seine Geburt ausgesucht und sich damit mit ihm in besonderer Weise verbunden, obwohl er dort nur gut ein Jahr verbrachte und später nie mehr an ihn zurückgekehrt ist. Donji Kraljevec ist ein kleines Dorf im »Blumengarten Kroatiens«, zwischen den Flüssen Mur und Drau gelegen. Sowohl die slowenische als auch die ungarische Grenze sind nur wenige Kilometer entfernt. Die nächstgrößere Stadt ist Varazdin, die der Gegend das Prädikat einer Operettenlandschaft verleiht, wird sie doch bei Emmerich Kalman in der Gräfin Mariza besungen (»Komm mit nach Varazdin, so lange noch die Rosen blühn«). Hier in dieser abgeschiedenen Gegend steht das bescheidene Geburtshaus Steiners mit seiner wechselvollen Geschichte, das zwischenzeitlich unter anderem als Schweinestall zu dienen hatte. Jetzt wird es von Nachbarn als kleines Museum unterhalten und könnte gut als Kulisse für ein Krippenspiel herhalten. Die Bewohner haben begriffen, dass von hier etwas Großes in die Welt hinausging. Ein Gefühl des »wir gehören dazu, wir wollen dabei sein« breitet sich aus. Der Empfang des Zuges durch die Bevölkerung ist überwältigend. Die Passagiere, die auf andere Weise angereisten Teilnehmer der Tagung und die Bevölkerung bilden einen Umzug mit rund 400 Teilnehmern, der von der örtlichen Blaskapelle an sein Ziel, das örtliche Sportzentrum, geführt wird. Zu spüren ist eine Begeisterung und ein Wille, hier am Geburtsort etwas entstehen zu lassen, was die Früchte der Anthroposophie erkennen lässt. Die Gemeinde hat ein Haus mit 400 Quadratmetern zur Verfügung gestellt, das nach einer gründlichen Sanierung unzweifelhaft anthroposophische Architektur aufweist und nun als »Centar Rudolfa Steinera« seiner Zukunft entgegen sieht. An diesem Ort erheben sich an Pfingsten 2014 drei weiße Tauben, begleitet von hoffnungsvollen Worten für die Zukunft dieses Zentrums. Sandra Percac ist die treibende Kraft im Ort. Sie lebt für dieses Zentrum und hat einen großen Unterstützerkreis gefunden. Inzwischen gibt es eine Reihe von anthroposophischen Publikationen in kroatischer Sprache. In ihr haben die Wahrspruchworte Rudolf Steiners einen ausgesprochen erhabenen Klang.
Dem Tagungsteilnehmer an diesem historischen Ort wird deutlich, dass wir immer in der Gegenwart leben, da, wo die Vergangenheit aufhört und die Zukunft beginnt. Da ist es wünschenswert, etwas von der großen Herzlichkeit dieses Ortes mitzunehmen und in die ganze Welt hinauszutragen, sind wir doch Baumeister einer Gemeinschaft, die ihre physisch nicht sichtbaren Spuren hinterlassen werden.
Zum Autor: Hansjörg Hofrichter ist Gründer der Waldorf- und der Astoria-Stiftung sowie Vorstand der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen.