Waldorflernt

Kulturbegegnung statt Waldorf-Folklore

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Das Spektrum der Perspektiven auf diese Traditionen ist breit: für einige sind Paradeisspiel und Christgeburtsspiel nicht wegzudenken, für andere sind sie zur leeren Hülle geworden, wieder andere stellen die Frage, ob zum Beispiel die im Paradeisspiel entworfenen Bilder wirklich noch in unsere Zeit gehören oder ob es nicht an der Zeit sei, neue Bilder zu entwerfen. Und auch das, was Kinder und Jugendliche in ihrem häuslichen Umfeld erleben, ist weit gefächert. Abgesehen von den unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründen unserer Schülerinnen und Schüler wird Weihnachten auch bei Familien aus einem ursprünglich christlich geprägten Kulturfeld durchaus unterschiedlich gefeiert – das reicht von authentisch gefüllten Glaubensritualen über liebgewonnene Familientraditionen bis hin zum Negieren jeglichen Weihnachtsrummels. Für uns stellt sich insofern – nicht nur zu dieser Jahreszeit  – die Frage, wie wir mit der Kulturdiversität, die zur Realität einer diversen Gesellschaft gehört, zukünftig umgehen und mit welcher Haltung wir als Waldorfkindergärten und -schulen den Jahreszeitenfesten und Bräuchen der verschiedenen Kulturen begegnen wollen. 

In der #waldorflernt Podcastfolge «Kulturbegegnung – die Basis für Respekt und Toleranz» (S4F3) berichtet Andrea Setzer-Blonski über den Gründungsimpuls für die Freie Interkulturelle Schule in Mannheim und beschreibt das Anliegen der Kolleg:innen, Schüler:innen verschiedener kultureller Herkunft gemeinsam zu unterrichten. Setzer-Blonski war Mitgründerin der Schule. Neben dem Kennenlernen der unterschiedlichen Sprachen spielt vor allem auch das Erleben der verschiedenen Kulturen eine zentrale Rolle im Schulkonzept. Die Kinder haben die Möglichkeit, jeweils ein Jahr lang die Feste und Bräuche einer Kultur kennenzulernen und zu erleben: jüdische, muslimische oder christliche Kultur, aber auch japanische, burundische oder buddhistische Bräuche und Traditionen, je nachdem, welche Kolleg:innen jeweils zur Verfügung stehen. Durch ein selbstverständliches Eintauchen in die verschiedenen Feste, durch ein Erleben mit allen Sinnen – es wird auch gegessen, gesungen und getanzt – und durch das Miteinander von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Herkunftskulturen entsteht eine Gemeinschaft, in der für Ausgrenzung und Intoleranz kein Platz ist. Denn dort begegnen sich alle als Menschen, die die Schönheit der verschiedenen Kulturen erleben dürfen und auf vielfältige Art und Weise die Jahreszeiten oder besondere Ereignisse zusammen feiern. Durch das Einbeziehen der persönlichen Erfahrungen wird immer wieder deutlich, wie viele individuelle Wege es gibt, die für jeden Kulturraum üblichen Traditionen, Rituale und Feste zu gestalten. Andrea Setzer-Blonski möchte diesen Gedanken über die Grenzen Mannheims hinaustragen. Mit ihrer Initiative Kultur-der-Religionen möchte sie Menschen den Reichtum der jüdischen, muslimischen und christlichen Kultur nahebringen und so einen Grundstein gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit legen.

Wäre es vielleicht an der Zeit und gleichzeitig auch eine Chance, Feste, Bräuche und Traditionen einmal zu beleuchten, sie auf ihren Sinn und ihre Wirkung zu befragen, zu schauen, wie sie unsere Schulwirklichkeit widerspiegeln und dann ganz bewusst einen neuen Griff zu wagen? Wenn wir auf die Vielfalt und die Ähnlichkeiten der Traditionen in der Waldorflandschaft schauen, dann wäre da ja als erstes die interessante Frage: Warum feiern wir dieses Fest gerade so an unserer Schule? Wie ist diese Tradition entstanden? Welches Ziel verfolgen wir dabei? Wie authentisch füllen wir die bestehenden Formen noch oder ist der ursprüngliche Impuls einfach zur Gewohnheit – oder wie einige kritisch sagen: zur Waldorf-Folklore – geworden? Gelingt es uns wirklich, den Kindern durch den Jahreszeitentisch und das Feiern der Jahresfeste die Natur nahezubringen und sie den Wandel erleben zu lassen? Beleben wir bewusst die kulturellen Feste verschiedener Kulturen und Religionen, damit alle Schüler:innen die Möglichkeit haben, sowohl die  andere als auch die eigene Kultur besser kennen und schätzen zu lernen? Feiern wir gemeinsam Feste, weil dabei ein Raum entsteht, in dem wir uns darum bemühen, dass es allen gut geht und wir gemeinsam etwas Schönes und Besonderes erleben?

Es wird deutlich, dass es bei der Frage nach der Festkultur in unseren Kindergärten und Schulen um mehr geht, als um eine schöne Atmosphäre und um die Beständigkeit von Traditionen. Ein bewusster Umgang mit den Jahreszeiten z.B. ermöglicht es all den Kindern und Jugendlichen, die ohne einen selbstverständliche Einbettung in die Natur aufwachsen, einen Bezug herzustellen zu der Erde und der Natur, von der sie ein Teil sind und für die sie die Verantwortung übernehmen werden. Zumal die Umwelt, in der wir aufwachsen, auch unsere Einstellungen und Erwartungen prägt. Es beeinflusst unser Lebensgefühl, ob wir jahrein jahraus um 6 Uhr morgens die Sonne aufgehen und um 6 Uhr abends wieder untergehen sehen oder ob es im Sommer 20 Stunden hell ist und im Winter nur wenige Stunden Tageslicht gibt. So wie das Leben mit den Jahreszeiten zu einer Verankerung auf der Erde beiträgt, so ermöglichen auch die kulturell oder religiös geprägten Jahresfeste eine Verortung in der eigenen familiären Kultur und fördern somit ein zunehmendes Bewusstsein von der eigenen Identität. Und wenn junge Menschen daneben ganz selbstverständlich den Reichtum anderer Kulturen erleben dürfen, dann trägt das nicht nur zum gegenseitigen Respekt, sondern auch zu der Freiheit bei, mit der Heranwachsende sich irgendwann für den eigenen Weg entscheiden können.

Am 13. Dezember ist ein #waldorflernt online Dialog zum Thema geplant.

www.waldorflernt.de

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