Veranstaltungsrückblick

Misslungenes Kennenlernen

Antje Cremer, Susanne Piwecki

Eine Lehrerin (Petra Mayer) steht auf der Bühne. Eine Lehrerin (Sabine Schwarz) kommt mit Milos Večerek (Bewerber als Sportlehrer) auf die Bühne. 

Sabine Schwarz | Ah, hallo Herr, Herr Weetzeerek (buchstäblich ausgesprochen).

Milos Večerek | Večerek.

Sabine |  Äh ja, Herr Wetterseck – herzlich willkommen an unserer Schule! Schön, dass Sie den Termin heute einrichten konnten. Ich zeige Ihnen zunächst unsere Schule und dann unterhalten wir uns, damit wir Sie näher kennen lernen können.

Hier ist unser Lehrerzimmer. Ah, das ist Frau Mayer, Klassenlehrerin der 7. Klasse. Hallo Petra! Darf ich Dir Herrn Wetterschreck vorstellen? Er hat sich bei uns als Sportlehrer beworben.

Petra Mayer | Guten Tag Herr Westermann!

Milos | Večerek, heiße ich, Večerek ! Guten Tag Frau Mayer!

Sabine | Wir haben schon eine Kollegin mit so einem unaussprechlichen Familiennamen. Aber die ist schwarz, also farbig, also wie heißt das nochmal heute PoC oder Pee-O-Zee oder? In der Waldorfschule haben wir ja nicht so gerne Anglizismen, wir suchen da erstmal für die Kinder auch gute deutsche Wörter. Ja und die Kollegin kommt gar nicht aus Afrika, sondern aus Indien oder so.

Milos | Ach Frau Chakraborty, ja die kenne ich, die ist auch aus Mannheim, wie ich.

Petra | Ja ach, Sie sind jetzt von Mannheim angereist, okay, aber woher stammen Sie wirklich? Also ursprünglich?

Milos | Aus Mannheim! Da bin ich geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen! Und wissen Sie was, ich kann diese Frage einfach nicht mehr hören! Wie oft wurden Sie das schon gefragt?

Petra | Oh ho – man wird das ja wohl noch fragen dürfen! Obwohl, ja eigentlich sprechen Sie ja auch ganz gut Deutsch – oder Sabine, was meinst Du?

Sabine | Also ich hätte wetten können, dass Sie vom Balkan kommen. Sie haben so was Slawisches. So … so was Starkes mit mächtigem Körperbau oder naja ich weiß auch nicht, ist mir jetzt etwas peinlich.

Sabine | Und Petra, ich sehe, Du arbeitest! Bist Du an der Unterrichtsvorbereitung für die Entdecker-Epoche? Was hast Du denn da für ein Bild ausgesucht?

Petra | Na ja, es zeigt die Entdecker und Menschen, die offenbar froh sind, entdeckt worden zu sein! Sie beschenken ihren Entdecker mit Gold und Schmuck. Im Hintergrund die drei Schiffe deuten wohl auf Christoph Kolumbus hin.

Sabine | Also Petra, da müssen wir jetzt etwas vorsichtig sein – so ein Bild kannst Du vielleicht im Kunstgeschichtsunterricht besprechen, aber doch nicht in der Entdeckerepoche! Die Entdecker waren sicher mutige Menschen, eine Tugend, die wir gern unseren Schülern vermitteln wollen, aber sie haben die Länder nach ihrer sogenannten Entdeckung besetzt, die Menschen unterdrückt und ausgebeutet. Jedes Kind weiß heutzutage, dass das der Ursprung von Rassismus ist.

Milos | Und jedes Kind weiß heutzutage, dass es Schüler:innen heißt! Wo bin ich hier nur gelandet? In einer Schule, die rassistisch ist und nicht alle Geschlechter einbezieht?

Petra | Also Herr Westerleck …

Milos | – Večerek!!!

Petra | Also Herr Westedings, wir sind hier eine Waldorfschule. Wir haben den ganzen Menschen im Blick. Waldorfschulen sind selbstverständlich offen für alle. Alle Schüler …

Sabine | Schüler:innen!

Petra | … können unsere Schulen besuchen!

Sabine | «Die Waldorfschule steht allen Kindern und Jugendlichen offen, unabhängig von Nationalität, Religionszugehörigkeit, sozialer Herkunft und Finanzkraft der Eltern». Sie achtet die kulturellen Hintergründe der Schüler:innen, erzieht zu weltanschaulicher sowie religiöser Offenheit … – steht im Leitbild der Waldorfschulen.

Milos | Wenn ich mich hier so umsehe, erscheint mir ihr Klientel nicht so divers. Außerdem sprechen die Zahlen eine andere Sprache: 97,5 % der Schüler:innen der deutschen Waldorfschulen haben keine Migrationsgeschichte. Über ein Viertel der deutschen Bevölkerung hat aber eine.

Petra | Und deshalb sind wir doch offen für alle. Wenn nicht alle kommen, was sollen wir da machen? Sie mit dem Lasso einfangen?

Sabine | Vielleicht ist da doch etwas dran. Es ist schon erstaunlich, dass wir Waldorfschulen nicht die ganze Gesellschaft mit unserer Schülerschaft abbilden. Ich frage mich nur warum? Dabei haben wir doch einen Lehrplan, der die Gipfelpunkte der abendländischen Kulturentwicklung einbezieht: alle Grimms Märchen, Goethe, Schiller, sogar Herr Ribbeck im Havelland ist dabei. In Englisch sind wir ganz kosmopolitisch, da lesen wir seit 40 Jahren: The Indian Boy … also das mit dem Indianerjungen!

Petra | Ach ja Indianer … Das war jetzt wieder im Radio – diese unsägliche Winnetou-Debatte. Unser deutsches Kulturgut, das die Indianerliebe von Generationen von Menschen dokumentiert, soll rassistisch sein. Da geht’s doch um Freundschaft!

Milos | Vielleicht haben Sie die Winnetou-Romane von Karl May nie richtig gelesen, aber sie sind dermaßen rassistisch, deutschtümelnd und frauenfeindlich. Die Indianer sind geistig meist limitiert dargestellt, nur der seiner Rasse überlegene Winnetou, der als roter Weißer aus dem Rahmen fällt. Glauben Sie wirklich, dass die Romane die American Natives realistisch darstellen?

Petra | Ich weiß nicht, ob das der Anspruch von Karl May war. Wir wissen ja alle, dass er nie in Amerika war. Er hat einfach viel recherchiert und sich in die Schicksale hineingedacht und mit seiner kraftvollen Phantasie gearbeitet! Dass man ihm dann geglaubt hat, dass die American Natives tatsächlich so leben – dafür kann er ja nichts.

Sabine | Und außerdem kommt man bei den Winnetoufilmen so richtig ins Gefühl von amerikanischer Freiheit und Weite.

Milos | Naja, die Filme wurden in Kroatien gedreht.

Petra | Ach da kennen Sie sich doch am Balkan aus! Ja Jugoslawien – erstaunlich oder, so viel Landschaft ohne Zivilisation, mitten in Europa.

Sabine | Ach ja, da waren ja vor noch gar nicht so langer Zeit die Jugoslawienkriege. Das waren eigentlich Religionskriege. Da gibt’s ja auch Moslems. Aber da muss man vorsichtig sein, ob man das in unserer so friedlichen Schule den Kindern erzählt.

Ach Gott, und was haben Sie für eine Religion? Sind Sie vielleicht auch Moslem?

Milos | Was spielt denn das für eine Rolle für den Lehrerberuf?

Petra | Also wir feiern ja viele Feste nach ganz alten christlichen oder waldorfpädagogischen Traditionen. Da weiß ich jetzt gar nicht, wie Sie da reinpassen könnten. Wir wollen ja niemanden verletzen.

Milos | Vielleicht locken Ihre Traditionen auch ganz andere Familien an.

Petra | Wie meinen Sie das jetzt? Sollen wir doch nicht offen für alle sein?

Sabine | Also ich glaube diese Debatten bringen uns alle nicht weiter. Das ist doch alles zu komplex für den Einzelnen! Das von uns ganzheitlich überarbeiteten WaldorflehrerINNEN auch noch zu verlangen, geht einfach zu weit!

Sie sind schließlich gekommen, um sich vorzustellen und unsere Schule kennen zu lernen. Wir können dann mal noch weiter gehen. Das wird Eindruck machen, wenn ich mit Ihnen durch die Schule gehe, mit Ihrer Größe! Aber am besten finde ich ja Ihre schönen Locken – darf ich die mal anfassen? 

Milos | Nein, das dürfen Sie natürlich nicht. Und überhaupt werde ich mich jetzt erstmal ausführlich mit meinem Mann beraten, ob diese Schule das richtige für mich ist. Auf Wiedersehen!

Petra | Ach der war ja empfindlich!

Sabine | Ja und jetzt haben wir wieder keinen Sportlehrer!


Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim (FIW) wurde 2003 gegründet als erste Waldorfschule Europas ihrer Art. 35 Lehrkräfte aus 14 verschiedenen Ländern unterrichten dort Schüler:innen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur. Der überkonfessionelle, an allgemein menschlichen Werten orientierte Lehrplan der Waldorfschule ermöglicht die Integration von interkulturellen Themen in vielen Fächern. Die aktive Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen fördert interkulturelle Kompetenzen und eine aktive Toleranz.

Mittels der sozialen Wurzeln der Waldorfschule möchte die FIW die zentrale «soziale Frage des 21. Jahrhunderts» angehen: Einen Beitrag leisten zur gegenseitigen Verständigung und fruchtbarem Zusammenleben von Menschen jeglicher sozialer und kultureller Herkunft. Jeder Mensch soll sich unabhängig von seinem kulturellen Hintergrund und diesen doch nutzend zu sich selbst entfalten können.

Alle Kinder, welcher Nationalität, Religion und sozialer Schicht sie auch angehören, sollen die Möglichkeit einer Bildung erhalten, die die Förderung der im Kinde veranlagten individuellen Kräfte in den Bereichen des Lernens, der Kreativität und der Persönlichkeitsbildung als zentrale Aufgabe sieht. In einem solchen Umfeld findet jedes Kind seine eigene Entwicklungsperspektive und lernt, mit diesen Verschiedenheiten fruchtbar umzugehen.

Kommentare

Andrea Montelius,

Genau so! Der unterschwellige Rassismus an den Waldorfschulen ist systeminhärent und muss dennoch wo auch immer möglich angegangen werden! Selbstreflexion statt Meditation über das Karma von Schüler:innen wäre notwendig!

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