Kunstpädagogik – ein Werkstattbericht aus der Oberstufe

Henning Hauke

Die Lebenswelt der Schüler und die Irrationalität der Kunst scheinen zum System Schule in vielen Punkten in einem unauflöslichen Widerspruch zu stehen. Die Waldorfpädagogik vertritt jedoch das Ideal einer Erziehungskunst, die Kunst als Entwicklung versteht. Soziale – ebenso wie individuelle – Entwicklung setzen einen forschenden Geist voraus, der neugierig auf die ihn umgebende Welt ist, der sich nicht dem Festgefügten unterwirft und dem Fatalismus die Freude an schöpferischer Tätigkeit entgegensetzt.

Die Bilder der Schüler dokumentieren, wie sie sich mittels technischer Medien spielerisch mit Malerei auseinandersetzen. In der Klasse werden keine didaktischen Konzepte der Kunstpädagogik vorgestellt oder digitale Medien insgesamt thematisiert, sondern wir fokussieren uns bei der Rückführung des Mediums Fotografie zur Malerei auf die Problematik dargestellter realistischer Erscheinung.

Unter dem Einfluss der digitalen Medien hat sich in den letzten Jahrzehnten bei den Heranwachsenden eine zunehmende Abhängigkeit ihrer Wahrnehmung von Bildern aus dem Internet entwickelt.

Bei den hier gezeigten Bildern handelt es sich um Fallbeispiele individueller Entwicklungswege. Die Selbstdarstellungen zu Malerei, Fotografie und Video, die in der 12. und 13. Klasse erstellt worden sind, veranschaulichen die Art und Weise, wie sich Schüler die digitalen Bilder durch Verfahren der Malerei aneignen.

Die Dokumentation thematisiert die Migration der Bilder zwischen den Medien Text, Malerei, Fotografie und Video. In der Bildproduktion von Jugendlichen zeigt sich unter dem Einfluss der digitalen Medien mitunter eine »Hybridisierung des Bildes«; es entstehen intermediale Zwischenräume, die sich aus dem Spiel mit unterschiedlichen Medien ergeben. – Anhand der Bearbeitung gleicher Motive in den verschiedenen Medien ergibt sich ein multiperspektivischer Blick auf das Bild. Ein Bild, beispielsweise von Vermeer (siehe Abb. 1 ), wird übertragen in inszenierte Fotografie und diese Foto­grafie wird transponiert in Malerei und weiter variiert in andere Motive der Körperdarstellung, um eine innere Beweglichkeit der »Einbildungskraft« anzuregen. Parallel dazu entstehen Texte in Form von Briefen, die umschreiben, was Vermeers Figur gerade in dem Brief liest. Durch die intermediale Verknüpfung von Text, Malerei und Fotografie erschließen sich vertiefte Zugangsweisen zum Phänomen Bild, das zwischen Sprachbild, digital bearbeiteter Fotografie und Malerei changiert. Eine weitere Variation besteht darin, mittels digitaler Animationstechniken das Abbild des Originals zu einer fiktiv-hybriden Figur idealer Schönheit umzuformen (siehe Abb. 2).

Abbildung 1

Abbildung 2

Die Frage, wie in der Kunstpädagogik imaginative Fähigkeiten in Bildungsprozessen angeregt werden, ist zentral mit der Entwicklung der Ich-Tätigkeit verbunden. Die produktive Einbildungskraft wird als bewegliche, bildschaffende Kraft im Umgang mit Bildern geübt. Die Schüler entwerfen gerade in der Adoleszenz Bilder von sich selbst. Das Ich tritt sich in unterschiedlichen Bildern gegenüber. Der Spiegel dient hierbei als Objekt der Selbstinszenierung. In den Klassen 12 und 13 beschäftigen sich die Jugendlichen intensiver mit der eigenen Identität. Es bewegt sie untergründig die Frage, wie sie ihren Lebensentwurf gestalten wollen. Das malerische Porträt regt an, sich flexibel in verschiedene Rollen oder andere Biografien zu versetzen. Zwischen innerer Welt und äußerer Wahrnehmung vermittelt dabei die produktive Einbildungskraft. Die Steigerung dieser produktiven Einbildungskraft kann zur Imagination führen. Durch die ästhetische Erfahrung (Seel 2004) wird Selbstwirksamkeit angeregt, unabhängig davon, ob die Gestaltung gelingt oder nicht.

Ästhetische Erfahrungen entwickeln sich in den unterschiedlichen Medien jeweils spezifisch. Der bewusste Umgang mit den feinen Unterschieden zwischen den Bildmedien Fotografie, Film oder Malerei und dem Medium Text kann Wahrnehmungsfähigkeiten bilden, die entlang der subtilen Qualitäten des Materials das ästhetische Urteilsvermögen sensibilisieren. Die Bewegung zwischen den unterschiedlichen Medien fördert ein bewegliches Vorstellungsleben. Diese Fähigkeit einer gesteigerten Aufmerksamkeit und eines bewussteren Umgangs mit Bildwirkungen ist in unserer von Medien bestimmten Gesellschaft eine Aktivität, die den seelisch-geistigen Wesenskern auch emotional berühren kann und so identitätsstiftende Erfahrungen ermöglicht. Solche Erfahrungen aktivieren den eigenen Wissenstrieb und wirken auf die ethische Haltung zurück. Das Bedürfnis, selber Wissen zu suchen, wird durch das spielerische Milieu der Kunstpädagogik geweckt.

Die zunehmende Medialisierung der Gesellschaft und die Bildung imaginativer Fähigkeiten erscheinen als zwei Seiten derselben Entwicklung. Eine Medienbalance entsteht für die Jugendlichen dadurch, dass sie auch die technischen Medien schöpferisch nutzen. Der Kunstunterricht versucht, Räume zu öffnen, um die heute oft nur durch bewusstlosen Konsum geprägten Lebenswelten der Jugendlichen sinnvoll in die Schule zu integrieren.

Kohärentes Selbst

Die Ich-Tätigkeit metamorphosiert sich in den Klassen 9 bis 13 durch die Wandlungen des leiblichen und seelisch-geistigen Gefüges des Menschen. Die Fallbeispiele konzentrieren sich auf Porträts aus Klasse 12 und 13. Die Entwicklungsschritte zeigen die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeiten der Schüler oder die mutige Steigerung ihrer expressiven Ausdrucksmöglichkeiten. Krisen und Entwicklungssprünge weisen auf eine komplexe Lebenswelt, die heute meist tief in den identitätsstiftenden Konsum diverser medialer Formate versunken ist.

Zentral in der Kunst ist die Konstitution der Wirklichkeit, wie Cezanne es in seiner »Realisation« versuchte. Die Frage nach der Wirklichkeit kann anhand der Entstehung von Bildstrukturen im Alltag der Kunstpädagogik gestellt werden, indem man einen Rahmen schafft, der Selbstbildung ermöglicht, damit das Subjekt seine Bildung selbsttätig spielerisch erproben kann. Es geht darum, jenes »kohärente Selbst« (Schmid 1998) zu erfahren, das sich in einer permanenten Selbstbildung und Balance zwischen Innenwelt und Außenwelt im Sinne einer vertieften Lebenskunst spielerisch konstituiert.

Es gibt unterschiedliche Medien der bildnerischen Arbeit, zwischen denen sich die Schüler im Kunstunterricht nach individueller Neigung bewegen, begleitet von Einzelgesprächen, aber auch Gruppendiskussionen.

Malerei und Selbstentwurf

Die Schüler entwickeln in der fünfstündigen Abitur-Prüfung in Baden Württemberg unter dem Aspekt der Identität Bilder, die originäre zeitliche Dimensionen aufweisen. Wie sie sich Erinnerung denken oder ihren Lebensverlauf imaginieren, kommt in den Blick. Dazu ein Beispiel aus der Abiturprüfung 2019.

Das alte Gesicht schaut in die Ferne, im Hintergrund ein unbestimmt blauer Raum, der durch die Pinselführung eine gewisse Dynamik aufweist, eine Bewegung simuliert. Vielleicht richtet sich der Blick zurück auf das vergangene Leben. Die Farben im Antlitz sind erloschen im Grisaille, die Linien des Lebens haben sich in das Gesicht eingegraben, es ist ernst, aber gefasst, das Licht in den Augen spiegelt einen wachen Glanz, vielleicht etwas wie Erinnerung. Eine gewisse Zufriedenheit prägt das Gesicht, das Leben liegt hinter ihm, es befragt das Vergangene. Der Mund ist geschlossen und die waagrechte Ausformung der Lippen erweckt den Eindruck von Gleichmütigkeit. Das Bild der Erinnerung aber erscheint unten als junge Frau farbig, als Gesicht, das eine gewisse Not visualisiert und durch die Verwischung als leicht irreales Moment inszeniert wird. Der dadurch angedeutete Lebensentwurf schafft ästhetische Differenz, die Schülerin spielt mit einer fiktiven Erzählung ihrer Biographie, wie sie verlaufen sein könnte. Diese Distanz schafft ein Persönlichkeit konstituierendes Ereignis, weil Imaginationskraft angeregt wird, das eigene Leben als einen aktiv zu gestaltenden selbsttätigen Prozess in der künstlerischen Tätigkeit der Malerei zu erfahren. Das Skript einer Biografie als Rolle wird aktiv entworfen. Das Ich setzt sich selbst, es gestaltet eine mögliche Variante von sich in der Zukunft. Der realistische Stil der Darstellung weist in die Welt des Serienkonsums, Filmplakate oder narrative Strukturen des Films bilden die Grundlage des Entwurfs.

Im Interview äußert die Schülerin, dass die Emotionalität der Filmbilder die Grundlage bildet, um überhaupt ein Bild zu entwerfen. Die variierte Darstellung des Medien-Zitats aus dem Film stellt durch die malerische Aneignung einen medienpädagogischen Aspekt dar, weil schnell vorüberhuschende Filmbilder durch die Reflexion in der Malerei eine »symbolische« Aufladung erfahren. Der Transfer in ein anderes Medium – ermöglicht durch die verlangsamte, konzentrierte Tätig­keit des Malens – schafft Aufmerksamkeit als Ich-Kraft und bewirkt die Koordination von Hand, Empfindung und Wahrnehmung. Der tägliche, langjährige Serienkonsum der Schülerin führte zu einer Bindung an die darin dargestellten Charaktere und übte eine nachhaltige Wirkung auf ihre sozialen Verhaltensweisen aus. Das Erinnerungsvermögen und das Weltverhältnis, zum Beispiel im Hinblick auf andere Nationen oder andere soziale Milieus, wird schon bei Jugendlichen tief durch filmische Erzählungen geprägt. Die Aneignung durch das Medium Malerei schafft einen ergänzenden, selbsttätigen Weltbezug, gleichsam eine therapeutische Dimension der Pädagogik.

Malerei und Selfie-Kultur

Die folgenden Beispiele zeigen einen für die Bildung von Identität fruchtbaren Prozess, weil durch den Transfer vom Medium Fotografie ins Medium Malerei ebenso ein Blick auf die Selbstinszenierungen in den Social-Media Plattformen geworfen wird.

Die Ölbilder aus der Abschlussarbeit der FHR-Klasse zeigen die Reflexion auf das Medium bei der Suche nach der eigenen Identität. Die Schülerin wählte schon in der elften Klasse immer wieder Bildmotive mit Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen. Interessant ist die technisch gekonnte, fast hyperrealistische Darstellung und der Versuch, die Selfie-Kultur der Social-Media-Plattformen malerisch darzustellen. Die parallel zur praktischen Tätigkeit stattfindende Reflexion der unterschiedlichen Medien bewirkt – so meine These – ein identitätsstiftendes Moment. Der Touch-Screen ist zerbrochen. Die Schülerin verwendete dabei zum Teil echtes, aber auch gemaltes Glas, sie zeigt den Blick durch ein zerbrochenes Glas (Spiegel und Touchscreen).

Die Figuren offerieren ihre Identität in Selfie-Manier, die gemalte Schnittstelle eines Bildschirms schafft jedoch eine Grenze, aber auch Distanz, aus der die Selfie-Kultur nun kritisch hinterfragt wird und das Problem des Ich oder des dargestellten Subjekts in einem reflexiven Raum erscheint. Das kritische Hinterfragen durch die praktische Darstellung weist auf Ich-Kraft, Bewusstheit oder Aufmerksamkeit, die sich in der Strategie der Anordnung und im distanzierten Blick der Inszenierung zeigen: Die zu perfekten Gesichter erscheinen in ihrer Künstlichkeit merkwürdig erstarrt. Der melancholische Blick der jugendlichen Menschen spiegelt Trauer und Einsamkeit. Die Malerei reflektiert auf das Medium Fotografie, die sich wiederum in einem weiteren Medium, auf der Oberfläche eines Computer-Bildschirms abspielt. Allein hierbei sind schon drei unterschiedliche Medien beteiligt. Es handelt sich um eine hybride Bildentstehung, die durch die parallel stattfindenden Gespräche Erkenntnisschritte ermöglicht, die einen bewussten Umgang mit Bildstrukturen schulen.

Videostills

 

Die Wahrnehmung und Analyse von bewegten Bildern stellt erhöhte Anforderungen an Produzenten und Rezipienten. Einige Schüler beschäftigen sich aber vertieft mit diesem Medium, einige können auch Prüfungsthemen im Abitur und FHR-Prüfungen damit gestalten. Diese filmische Arbeit führt direkt in die intermediale Verknüpfung von Bild, Musik und Sprache. Als Fach in der Oberstufe ist dies für eine ganze Klasse schon von der Ausrüstung her kaum zu leisten. Für Projekte in kleineren Gruppen ergeben sich aber Möglichkeiten, weil die Motivation der Schüler für die hierbei erforderliche Teamarbeit sehr hoch ist. Da der Filmkonsum der Schüler in der Oberstufe zum Teil sehr umfangreich ist, sind Fragen zur Filmrezeption, -analyse und -produktion heute eine pädagogische Notwendigkeit. Der in den Hinweisen verlinkte Film war Teil einer Prüfung im Abitur 2018 in Baden-Württemberg.

Zum Autor: Henning Hauke, Kunstpädagoge an der Freien Waldorfschule Göppingen, Dozent am Seminar Kirchheim Teck für Kunst und Medienpädagogik. Studium Malerei Dornach, Master of Arts Pädagogik, Praxisforschung an der Alanus Hochschule, Studien zur Performativität, Kurstätigkeit an verschiedenen Seminaren und Hochschulen, Glasprojekte. https://henninghauke.space/menu

Literatur:

M. Seel: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, in: G. Mattenklott (Hrsg.): Entgrenzung der Künste, Hamburg 2004 | W. Schmid: Philosophie der Lebenskunst: Eine Grundlegung, Frankfurt 1998

Link: https://vimeo.com/281795743