Labiles Gleichgewicht – Leben zwischen Extremen

Dirk Cysarz

Eine besorgte Mutter misst bei ihrem Kind die Temperatur, um festzustellen, ob es Fieber hat. Die Krankenpflegerin lässt an einer aufgeblasenen Armmanschette langsam die Luft ab, um den systolischen und diastolischen Blutdruck des Patienten zu messen. Der Arzt bestimmt bei einem Patienten die Herzfrequenz, indem er die Anzahl der Pulse mit dem Finger fühlt und zählt. Zusätzlich wird er die Atmung beachten. Die verschiedenen Messungen erlangen eine Bedeutung für die Erkenntnis von Gesundheit und Krankheit allerdings erst, wenn sie in physiologische (Denk-)Modelle vom menschlichen Organismus eingeordnet werden. Diese Denkmodelle sind technologisch. In der Physiologie werden viele Funktionen des Organismus in Form von Regelkreisen beschrieben.

Die Regulation des Blutdrucks wird zum Beispiel folgendermaßen vorgestellt: Im Hirnstamm wird der Sollwert des Blutdrucks mit dem momentanen Istwert des Blutdrucks verglichen. Liegt der momentane Blutdruck über dem Sollwert, werden vom Regler aus über das vegetative Nervensystem einzelne Stellglieder (zum Beispiel: Herzfrequenz, peripherer Widerstand) verändert, mit dem Ziel, den Blutdruck zu senken. Rezeptoren am Aortenbogen hinter dem Herz erfassen den momentanen Blutdruck, er wird über das vegetative Nervensystem an den Hirnstamm weitergegeben: der Regelkreis ist geschlossen.

Diese Art der Modellierung physiologischer Funktionen hat ihren Ursprung im Konzept der Homöostase (homöo – gleich; stasis – Stand). Es besagt, dass von der Zelle über Organe bis zum gesamten Organismus in unterschiedlichsten Funktionen ein konstantes Gleichgewicht erhalten wird. Die zugrunde liegende Idee ist, dass sich Organismen durch dieses konstante Gleichgewicht von der Umwelt abgrenzen können. Wird ein Organismus durch Umwelteinflüsse gestört, dann bringt das zwar seine Funktionen aus dem Gleichgewicht, sie können aber durch entsprechende Regelungsvorgänge wieder ins Gleichgewicht zurückgeführt werden.

Starre Regelkreise oder lebendige Variationen

Wenn man das Zusammenspiel der Komponenten eines Regelkreises kennt, kann man also gezielt in das System eingreifen. Ist zum Beispiel der Blutdruck deutlich erhöht, dann kann man an geeigneten Stellen durch ein Medikament in den Regelkreis eingreifen, um den Blutdruck zu senken. Wird das Medikament wieder abgesetzt, dann kehrt die Regelung in den alten Zustand zurück und der Blutdruck ist wieder erhöht. Da in der Medizin solche gezielten Eingriffsmöglichkeiten erwünscht sind, ist die Modellierung physiologischer Funktionen mit Regelkreisen zweckmäßig. Allerdings ist nach diesem Modell in vielen Fällen eine Dauermedikation notwendig, da der Regelkreis einer physiologischen Funktion dauerhaft verändert werden muss.

Werden die Eigenschaften solcher Regelungen genauer betrachtet, dann zeigt die zu regelnde Funktion Schwankungen um den Sollwert. Diese sind abhängig von den Einzelkomponenten des Regelkreises. Ihnen wird jedoch keine besondere Bedeutung zugemessen, denn das primäre Ziel des Modells ist die Erhaltung des konstanten Gleichgewichts von physiologischen Funktionen.

Ein Blick auf die Schwankungen, die zeitlichen Variationen von physiologischen Funktionen, ist jedoch lohnend. Der Grundcharakter solcher Variationen kann am Herzschlag studiert werden: Die Kontraktion des Herzmuskels in der Systole wird durch die Entspannung des Herzmuskels in der Diastole abgelöst. Die Zustände von Systole und Diastole treten nie gleichzeitig auf, sondern in ständigem Wechsel. Wird zum Beispiel der Blutdruck als Resultat dieser Vorgänge gemessen, zeigen sich deutliche Variationen. Systole und Diastole gleichen sich im zeitlichen Nacheinander aus.

Dieses Prinzip des aufeinander folgenden Wechsels entgegengesetzter Zustände erzeugt einen pausenlosen »Spannungszustand«: Ist die Systole eingetreten, dann geht es wie bei einem Pendelschlag wieder in Richtung Diastole; ist die Diastole eingetreten, dann geht der Pendelschlag wieder in Richtung Systole. Dieser Spannungszustand findet sich in allem, was lebt.

Die unterschiedlichen Rhythmen unseres Körpers

Der beschriebene Vorgang endet erst mit dem Tod, denn ohne den dynamischen Spannungszustand zerfällt der Organismus. Zeitliche Strukturen physiologischer Funktionen sind ein wesentlicher Aspekt des Ätherleibes. In der funktionellen Dreigliederung werden die zeitlichen Strukturen als »Rhythmisches System« bezeichnet. Auch hier gibt es einen Spannungszustand, allerdings nun zwischen dem für das Denken zuständigen Sinnes-Nerven-System und dem für das Wollen zuständigen Stoffwechsel-Gliedmaßen-System. Das für das Fühlen zuständige Rhythmische System ermöglicht den Ausgleich zwischen den beiden anderen Systemen. Aus anthroposophisch-anthropologischer Sicht sind daher Zeitgestalten oder Rhythmen in physiologischen Funktionen essenziell. Beispielhaft sollen drei Spontanrhythmen auf unterschiedlichen Zeitskalen und mit unterschiedlichen Eigenschaften dargestellt werden.

Die schnellsten Spontanrhythmen zeigen sich im Bereich des Nerven-Sinnes-Systems bei der Informationsverarbeitung – zum Beispiel bei einzelnen Nervenaktionen, die deutlich schneller als eine Sekunde sind. Dadurch können die vielen Informationen schnell in adäquater Weise abgebildet werden. Durch das hohe Maß an unterschiedlichsten Informationen sind die Zeitgestalten in diesem System sehr komplex (siehe Abb. 1C, Elektroencephalogramm/EEG im Wachzustand – die Abbildungen finden Sie in der gedruckten Ausgabe). Erst im Tiefschlaf, wenn das Bewusstsein deutlich abgedämpft ist, zeigen sich deutliche Oszillationen (Abb. 1C, EEG Schlafstadium IV).

Etwas langsamere rhythmische Funktionen mit Periodendauern von ca. einer Sekunde (Herzrhythmus) bis zu Minuten (Blutverteilung) finden sich im Herz-Kreislauf-Bereich. Der Herzrhythmus ist weit weniger komplex als die Zeitstrukturen im Nerven-Sinnes-System, er zeigt aber immer noch ein hohes Maß an Variabilität. Dadurch können die unterschiedlichen Anforderungen an den Organismus, zum Beispiel Sitzen oder Laufen, durch entsprechende Adaptationsleistungen im Herz-Kreislauf zügig bewerkstelligt werden (Abb. 1B). Im Stoffwechsel-Bereich sind die Zeitstrukturen noch einmal deutlich regelmäßiger, die Funktionen zeigen stabile Variationen. Besonders die Körperkerntemperatur, die in 24 Stunden systematisch Schwankungen von bis zu 1°C zeigt, weicht kaum vom Tagesrhythmus ab. Am späten Nachmittag ist die Körperkerntemperatur am höchsten, am frühen Morgen am niedrigsten (Abb. 1A).

An diesen drei Beispielen wird deutlich, dass der menschliche Organismus die volle Bandbreite an Zeitstrukturen erzeugt. Krankhafte Veränderungen zeigen sich immer dann, wenn sich die zur physiologischen Funktion gehörigen Zeitstrukturen nicht in der genannten Art ausprägen können. Im Sinnes-Nerven-System treten zum Beispiel bei Epilepsien statt hochkomplexen Zeitstrukturen stabile Oszillationen auf. Im Stoffwechselbereich sind Abweichungen der Körperkerntemperatur vom 24-Stunden-Tagesgang ebenfalls nur im Krankheitsfall zu sehen (zum Beispiel bei Fieber). Und der Herzrhythmus kann bei Krankheit entweder zu starr (zum Beispiel nach einem Herzinfarkt) oder zu unregelmäßig (bei Rhythmusstörungen) werden.

Aus den Beispielen wird deutlich, dass die Zeitstrukturen in den unterschiedlichen physiologischen Funktionen eng mit Gesundheits- und Krankheitsvorgängen im Organismus verknüpft sind. Für die Regeneration ist der Nachtschlaf wichtig. Jeder kennt den guten Schlaf, der Kraft für den nächsten Tag gibt. Auch der Schlaf selbst verläuft nicht geradlinig, sondern schwankt zyklisch zwischen Leicht- und Tiefschlaf mit einer Dauer von etwa 60-90 Minuten. Die Regenerationsleistungen während des Schlafs basieren physiologisch unter anderem auf Koordinationsleistungen zwischen Herz-Kreislauf-Funktionen.

Therapeutische Maßnahmen bei Rhythmusstörungen

Im Krankheitsfall sind die rhythmischen Strukturen der betroffenen physiologischen Funktionen gestört. Können krankhaft veränderte Zeitstrukturen physiologischer Funktionen therapeutisch beeinflusst werden? Im Folgenden wird anhand der Therapeutischen Sprachgestaltung ein Beispiel für solche therapeutische Maßnahmen dargestellt. Die Anthroposophische Sprachtherapie wird seit vielen Jahrzehnten erfolgreich als begleitende Therapie bei unterschiedlichen Erkrankungen angewendet.

Für die Sprachtherapie ist physiologisch relevant, dass der Herzrhythmus durch den Atemrhythmus variiert wird. Das bedeutet, dass beim Gesunden das Herz während der Einatmung etwas schneller schlägt und während der Ausatmung etwas langsamer. Durch Sprachübungen wird insbesondere der Atemrhythmus (Ein- und Ausatmung) gestaltet. Dieser gestaltete Atemrhythmus prägt sich in den Herzrhythmus ein. Da verschiedene Sprachübungen den Atemrhythmus unterschiedlich gestalten, prägt jede Sprachübung eine spezifische Zeitstruktur in den Herzrhythmus ein. Die Zeitstrukturen im Herzrhythmus können – je nach Sprachübung – gleichmäßig oder unregelmäßig sein.

Da Sprachübungen physiologische Wirkungen haben, liegt nahe, dass sie auch therapeutisch einsetzbar sind. In Untersuchungen zu Sprach- und Atemübungen hat sich gezeigt, dass langsame und tiefe Atmung (ca. sechs bis acht Atemzüge pro Minute) die Blutdruckregulation positiv beeinflussen kann. Bei dieser langsamen Atmung entspricht die Atemfrequenz, und damit die Anregung der Herz-Kreislaufregulation, dem Rhythmus der Blutdruckregulation. Der Blutdruck ist, anders als im obigen Beispiel für den Regelkreis, in der Realität nicht konstant, sondern schwankt im 10-Sekunden-Rhythmus. Interessant ist, dass bei Patienten mit Bluthochdruck während dieser langsamen Atmung eine Senkung des Blutdrucks festgestellt werden konnte. Bei Gesunden blieb der Blutdruck hingegen unverändert, da die Regulation normal funktionierte.

Sollen nachhaltige Effekte erzielt werden, muss über einen längeren Zeitraum regelmäßig geübt werden. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass zum Beispiel Atemübungen eine Reduktion des Blutdrucks bewirken können, dass dies aber nicht immer ausreicht, um in den Normalbereich zu gelangen. Therapieformen, die rhythmische Strukturen von physiologischen Funktionen berücksichtigen und unterstützen, umfassen die gesamte physiologische Funktion (den gesamten Regelkreis). Im Gegensatz zum Homöostase-Modell, bei dem die physiologische Funktion als Regelkreis modelliert wird und einzelne Komponenten des Regelkreises therapeutisch verändert werden, wird unter Berücksichtigung von physiologischen Rhythmen therapeutisch ein gesamtheit­licher, übender Ansatz praktiziert. Dadurch wird den physiologischen Funktionen die Möglichkeit gegeben, ihre ursprüngliche Funktionsweise wieder zu erüben und dauerhaft zu etablieren. Das Homöostase-Modell kann sinnvoll ergänzt werden, indem es die Zeitstrukturen physiologischer Funktionen berücksichtigt.