Lärm im Kindergarten
Wenn im Kindergarten Kinder ihr Spiel frei ausleben können, dann fühlt sich das für mich so an, als stünde ich am Strand eines Meeres. Am frühen Morgen scheint alles noch ruhig: Kleine Wellen, die ein leises, glucksendes Geräusch machen, wenn die Kinder ihr Spiel beginnen. Zunehmend wird es lebendiger, es entstehen Wellen, die an mir vorbeigehen oder mich manchmal auch umspülen, an dem Platz, an dem ich meiner eigenen Arbeit nachgehe.
Hinweis: Der Artikel ist in der Winterausgabe der Zeitschrift »Frühe Kindheit« (04/2022) erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.
Eine Kindergruppe von 24 Kindern hat eine wogende Energie und Dynamik. Wenn man sich vorstellt, wie es ist, wenn ein großes Symphonieorchester ein Crescendo vorbereitet, welches in einen allgemeinen Sturm aller Instrumente mündet, dann versteht man, was ich meine. Das ist beeindruckend, mitreißend, belebend und vor allem laut. Sehr laut!
Als ich das erste Mal in einem Buchbeitrag von einer Untersuchung las, bei der festgestellt wurde, dass es in den Innenräumen von Montessori- und Waldorfeinrichtungen nur einen halb so hohen Lärmpegel gäbe wie in städtischen Einrichtungen, war ich überrascht, dass dies lediglich mit der spezifischen Pädagogik begründet wurde. Die Ausführungen hierzu hinterließen bei mir Zweifel und ein mulmiges Gefühl. Schließlich hatte ich es schon oft erlebt, dass es Kindern schlichtweg nicht erlaubt war, laut zu spielen. Nicht einmal im Garten, geschweige denn im Innenraum.
In Bezug auf die Untersuchung schien es mir plausibel, dass die Größe der Räume und die Größe der Gruppe auch eine Rolle spielen dürften. Auch die Ausstattung in einem Waldorfkindergarten mit stoffbehangenen Spielständern, kleinen Stübchen, die den Gruppenraum unterteilen, Vorhängen und anderen textilen Elementen und Spielmaterialien, wirkte doch sicher einer Lärmspirale entgegen?
Obwohl unser Gruppenraum genau diese Ausstattung aufweist, gab es regelmäßig ein- oder mehrmals am Tag eine Lärmspirale, die ins schier Unermessliche zu führen schien. Sanftes Eindämmen half nur manchmal und wenn, dann kurzfristig. Wie gut, dass ein Paar Gehörschützer, die wie Kopfhörer aussehen, Einzug in unsere Gruppe gehalten haben.
Ursprünglich war die Idee, diese bei großem Lärm aufzuziehen und dadurch optisch zu signalisieren, dass es unangenehm laut geworden war (uns Erwachsenen oder einem Kind) – ohne in die Versuchung zu geraten, gegen den Lärm paradoxerweise anzubrüllen. Außerdem sollte der Gehörschutz auch als Spielmaterial frei verfügbar sein. Allerdings unter der Prämisse, dass nur Kinder ihn benutzen dürften, die erträglich laut spielten. Oft wurde der Gehörschutz natürlich auch an der Werkbank gebraucht, an der nahezu täglich gearbeitet wird und die zum Glück im L-förmigen Raum um die Ecke steht.
Nach einem Jahr in diesem Raum und des Beobachtens des kindlichen Spielverhaltens war uns klar, dass etwas mit dem Raum nicht in Ordnung war und etwas mit ihm geschehen musste. Denn dass wir die Kinder in ihrem Spiel hemmten, indem wir das Spiel wiederholt mit Ermahnungen unterbrachen, war nicht hinnehmbar.
Unser Einrichtungsträger beauftragte eine Architektin, die feststellte, dass der Raum durch seine Architektur einen hohen Nachhall produzierte, der naturgemäß dazu führte, dass sich Geräusche aufschaukelten. Schnell erhielten wir an einer Wand drei Wollfilzpaneele, die den Hall mindern. Seitdem können wir der natürlichen Abfolge von Laut und Leise folgen. Und laut meint wirklich laut! Wenn ein Kind mit einem Holzlöffel auf den Blechkochtöpfen Schlagzeug spielt, ist eine Lärmspitze erreicht, die wir aktiv eindämmen und das Spiel muss nach draußen verlegt werden. Aber im Vertrauen auf die natürliche Musikalität des Spiels mit seinem eigenen Rhythmus und eigener Harmonie, können wir die Faszination erleben, wie die Dynamik des Kindergartenmeeres zu einem leisen Gemurmel abebbt, bevor es wieder anschwillt.
Wenn der Gehörschutz ein Eigenleben bekommt
In unserer Gruppe gibt es vier Kapselgehörschutze. Zwei hängen an der Werkbank, zwei im Kinderkaufladen. Zunächst als Schutz für empfindliche Ohren gedacht, entwickelten sie schnell ein Eigenleben. Ja, vielleicht haben sie sogar durch ihre zweckdienliche Vorgeschichte ein Eigenleben entwickelt? Neben der erwartbaren Verwendung in einem Baustellenspiel und allerlei phantasievoller Zweckentfremdung haben wir viele interessante Beobachtungen machen können.
Wenn das Spiel der Fünf- bis Siebenjährigen, die die wahren Herrscher des tosenden Kindergartenmeeres sind, einmal wieder sehr lebendig wird, kann dies einschüchternd auf ein neues, jüngeres Kind wirken. Immer wieder reicht den Kindern die schützende Nähe des Erwachsenen nicht, dieser akustischen Welle Stand zu halten. Die Kinder lernen durch Nachahmung schnell, dass sie sich einen Gehörschutz holen können, um sich wortwörtlich das Gehör zu schützen. Wir sehen aber auch, dass sie sich die Ohrschützer holen, wenn es im Raum gar nicht laut ist. Vom akustischen Rückzugsort aus beobachten die Kinder neugierig das Spiel der Anderen, ganz vertieft in die optische Sinneswahrnehmung. Sie schützen sich gewissermaßen selbstständig vor Reizüberflutung. Mit dem Gehörschutz kann sich das Kind besser abgrenzen, sich einen eigenen Raum schaffen. Manche setzen sich die Schützer auf und summen etwa vor sich hin oder vertiefen sich allein in eine selbst gewählte Tätigkeit, zum Beispiel Malen, Haferflocken quetschen oder Getreide mahlen.
Dabei muss man verstehen, dass man mit dem Gehörschutz die Umwelt sehr wohl noch hört, man versteht auch, was im Raum gesprochen wird und kann sich sogar miteinander unterhalten. Aber alles wirkt gedämpft, gefiltert. Den eigenen Ton jedoch nimmt der Träger verstärkt wahr. Ich konnte Kinder beobachten die offensichtlich ihrem eigenen Atem lauschten.
Der Großteil der Kinder unserer Gruppe zeigen kein Interesse an dem Gehörschutz. Rund ein Drittel nutzt ihn als erweitertes Spielgerät, ein Fünftel etwa als tatsächlichen Gehörschutz und Rückzugsort.
Aber, der Ohrschützer konnte auch schon zu einer Konfliktlösung beitragen.
Milo, Theo und Nilas, alle fünfeinhalb Jahre alt, bauen aus Brettern, Ständern und Leitern eine große Landschaft auf. Sie verfolgen eine gemeinsame Spielidee, geraten aber in Streit, als Theo – der allgemein akzeptierte Spielleiter – die Ausrichtung eines der Bretter verändert. Milo möchte seine Vorstellung umsetzen und gerät außer sich, als die beiden anderen auf Theos Version beharren. Beide Parteien zerren am Brett, während Theo und Niklas auf Milo einreden und dieser unaufhörlich brüllt. Schließlich lässt er das Brett los, hält sich die Ohren zu und schreit noch lauter. Unvermittelt läuft er fort und kommt mit dem Gehörschutz auf dem Kopf zurück. Das Gesicht hochrot und Tränen überströmt steht er schnaubend da. Er wiederholt, was er
ursprünglich sagen wollte, und hört sich unter der Wirkung des Gehörschutzes selbst lauter und bleibt unbeeindruckt davon, dass Theo ihm ins Wort fällt. Als Milo zu Ende geredet und seinen Standpunkt klar gemacht hat, erträgt er es – akustisch gedämpft – zu hören, was seine Freunde ihm zu sagen versuchen. Sie kommen in einen Dialog und finden nach kurzer Zeit zu einer Lösung und können weiter spielen.
Wir sind froh, die Raumakustik durch Paneele verbessert zu haben und damit die Lärmspirale unterbrechen konnten. Und wenn die Kinder eine Lärmspitze produzieren, dann schicken wir sie in die Garderobe, den Flur, den Reigenraum oder nach draußen. Oder setzen uns einen Gehörschutz auf. Und irgendwann werden sie ja auch wieder leiser.
Melanie Lisges hat Japanologie und Soziologie studiert und war Dolmetscherin. Sie ist Waldorfkindergärtnerin und hat zwei Söhne.
Hinweis: Die Untersuchung der Fachhochschule Landshut, Abteilung Umwelttechnik, bezügl. Lärmbelastung in Kindergärten fand Erwähnung in: M.L. Compani und P. Lang (Hrsg.): Waldorfkindergarten heute. Eine Einführung, Stuttgart 2011.
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