Lebensgeist – der verwandelte Ätherleib

Corinna Gleide

Das Spannungsverhältnis in der Bewusstseinsseele

In dem Buch »Theosophie« charakterisiert Steiner die Bewusstseinsseele als denjenigen Teil der menschlichen Seele, der aus der Kraft des klaren Gedankens heraus in Beziehung zu treten vermag zum Wahren und Guten. Wobei für die Bewusstseinsseele charakteristisch ist, dass dem durch das Denken erkannten Wahrheitsgehalt einer Sache eine selbstständige Bedeutung zukommt. Das heißt, das Wahre ist nicht bedingt oder abhängig vom persönlichen Befinden, Dafürhalten oder von den Tagesereignissen. Auch was als das Gute erkannt wird, ist unabhängig von persönlichen Neigungen, von Gefallen und Missfallen oder vom Begehren.

Das bedeutet, dass der Mensch, der die Bewusstseinsseele in dieser Form entwickelt, in seiner Seele ein Spannungsverhältnis erlebt: Er lässt sich darauf ein, dass er Ideen und Ideale in seiner Seele trägt, die zu den eigenen seelischen Neigungen, Bedürfnissen und auch zu den bestehenden Fähigkeiten zumindest teilweise im Widerspruch stehen oder sich nicht mit diesen decken. Diese Spannung bleibt nicht im Inneren der Seele, sondern sie zeigt sich auch zwischen den eigenen Ideen und Idealen und der äußeren Wirklichkeit. Das kann zu Resignation und auch Absage an die Ideale und Ideen führen. Der einseitige Materialismus unserer Zeit suggeriert unzähligen Menschen, dass damit etwas gewonnen wäre, weil man scheinbar »bei der Wirklichkeit ankommt« und Realist ist.

Was ist Wirklichkeit?

Aber was ist die Wirklichkeit? Damit in engem Zusammenhang steht die Frage, wie das in der Eigenart der Bewusstseinsseele liegende Moment der Geistberührung, das sich oft im Spannungsverhältnis zur eigenen seelischen und außerseelischen Realität befindet, produktiv gewendet werden kann. Das ist zugleich die Frage nach der Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Die Entwicklung des Geistselbstes, bei der sich der Mensch durch die Verwandlung des Astralischen als »engelverwandt« zu erfassen beginnt, gibt darauf eine erste Antwort. Die von Betti gegebenen Beispiele von Mandela und Sadat deuten an, wie diese aus individueller Kraft erworbenen Wandlungen des eigenen Wesens weitreichende Veränderungen im sozialen Umfeld zur Folge haben. Die schöpferische Wandlungskraft des Ich im Menschen kann buchstäblich Berge versetzen, wie es im Evangelium heißt. »Wirklichkeit« ist dann keine feststehende Größe mehr, sondern hängt ab von der Entwicklung des Menschen. Was er aus sich macht, wie er sich neu hervorbringt, ist entscheidend für die Wirklichkeit.

Lebensgeist

Diese Tendenz der Umgestaltung, die vom Ich ausgeht und bis in soziale Weltbezüge hineinwirkt, setzt sich fort im Gebiet des eigenen Ätherleibes. Die leibaufbauenden Kräfte, die zugleich eine lebendige Beziehung zur Welt stiften, wirken sowohl beim Kind, als auch normalerweise beim Erwachsenen heute, zunächst weitgehend unbewusst. Wenn man mehrere Stunden in einer Großstadt zu Fuß unterwegs war, Eindrücke, Lärm, Hektik und vielleicht auch Elend aufgenommen hat, dann ist man danach nicht nur aufgrund der zurückgelegten Kilometer erledigt. Vielmehr ist der Ätherleib als Beziehungsleib tendenziell überfordert; und das führt dazu, dass man sich wie »erschlagen« fühlt. Harmonische Umgebungen hingegen beleben und kräftigen den Ätherleib. Wenn wir heute solche Einflüsse im Ergebnis wahrnehmen, stehen aber doch fortlaufende Prozesse dahinter, nämlich Kraftströme, die vom Menschen ätherisch aufgenommen – und auch abgegeben werden.

Wenn das Ich beginnt, diese Kraftströme des Ätherischen – sei es des eigenen Ätherleibes oder auch des Ätherischen der Umgebung – wahrzunehmen und mitzugestalten, hat das mit der Entwicklung des Lebensgeistes zu tun. Das bringt eine sehr erhebende und beflügelnde Perspektive mit sich. Es besteht eine tiefe Sehnsucht und Notwendigkeit in unserer Zeit, dass wir uns wahrnehmend, erkennend und handelnd, über das rein Physisch-Gegebene erheben. Zugleich stößt jeder, der eine solche Entwicklung begonnen hat, aber auf Widerstände – gerade in sich selbst.

Denn bei allen zuerst unbewusst verlaufenden Prozessen, die man mehr und mehr ins Bewusstsein heben lernt, bemerkt man, dass man in ihnen zunächst nicht frei und selbstbestimmt ist. Vielmehr hat man es je nach Bedürfnislage, Konstitution oder Temperament gerade im Ätherleib mit saugenden, ziehenden, bindenden und festhaltenden Kräften zu tun. Sie zeigen sich jetzt, wo Bewusstsein im Ätherischen entsteht, erst wirklich deutlich – gerade in ihrer unfrei machenden Wirkung.

Diese Kräfte können im Gemeinschaftsleben sehr bestimmend wirken. Sie bewirken unfreie zwischenmenschliche Verhältnisse, unklare und ungleichgewichtige Bindungs- und Machtstrukturen sowie Abhängigkeiten. Was als real-übersinnliche Kraftwirksamkeit wahrnehmbar wird, hat immer auch eine seelisch-astralische Seite. In der Anthroposophie wird in diesem Zusammenhang vom Doppelgänger gesprochen.

Es gehört Kraft, Mut und Ausdauer dazu, sich diese Kräfte des Ätherischen bewusst zu machen und frei mit ihnen umgehen zu lernen. Selbsterziehung und -entwicklung ist deswegen neben der meditativen Arbeit die zweite Säule des anthroposophischen Schulungsweges.

Zur Autorin: Corinna Gleide arbeitet im D. N. Dunlop-Institut für anthroposophische Erwachsenenbildung, Sozialforschung und Beratung mit Sitz in Heidelberg als Seminarleiterin, Vortragende und Autorin. Sie ist Gastdozentin an der Alanus-Hochschule in Mannheim und am Erzieherseminar Mannheim.