Spielraum für den Spiel-Raum

Helen Mäurer

Wie viel Spielraum, wie viel Handlungsfreiheit haben wir Pädagogen eigentlich innerhalb der Waldorfpädagogik? Es gibt einen Ort, an dem sich dieser Frage vielleicht besser nachgehen lässt, als an jedem anderen. Dieser Ort ist der Hort.

Ob Hort, OGS oder Ogata, noch vielfältiger als die Namen sind die über das ganze Bundesgebiet verteilten Horte. Da gibt es die Horte mit 30 Kindern und die mit 270, es gibt altersgemischte Gruppen oder Gruppen, die nach Klassen unterteilt sind, es gibt geschlossene Gruppen und offene. Es gibt Horte mit eigenen, dem Bedarf entsprechenden Räumen und solche, die aus den vorhandenen Räumen das Beste machen, sogar einen Waldhort gibt es.

Die Tage werden unterschiedlich gestaltet, alle mit dem Ziel, dem rhythmischen Ein- und Ausatmen im Tagesverlauf gerecht zu werden. Häufig wird ein flexibles Band geschaffen, in dem sich jeder frei bewegen kann und dann wieder mit der Gemeinschaft zusammen kommt, meist beim Mittagessen und zur Teezeit. Manche machen Hausaufgaben mit den Kindern, andere geben diese lieber in die Obhut der Eltern und nutzen den Hortraum für das freie Spiel. Einige nutzen die Möglichkeit, Tiere in ihre Arbeit einzubinden, andere erwärmen sich dafür, das Element Feuer in Form eines Ofens mit Kochplatte in ihren Alltag zu integrieren – Holzhacken inklusive.

Orte – frei von Erwartungen

Im Osten der Republik bauten die Hortmitarbeiter meist die Schulen gemeinsam mit dem Lehrerkollegium auf. Im Westen gab es die meisten Schulen in der Regel schon, bevor die Ganztagsbetreuung dazukam. Einige wenige Pädagogen werden wie Lehrer bezahlt, was dem (waldorf)pädagogischen Gedanken Rechnung trägt, andernorts gibt es eine Bezahlung in Anlehnung an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVÖD) oder gar nur den Mindestlohn – bedauerlich, wenn man davon ausgeht, dass die Bezahlung ein Barometer der Wertschätzung darstellt und vielfach auch die Qualität beeinflusst. Dennoch arbeiten viele Hortner unter diesen Bedingungen, weil sie ihre Arbeit lieben. Der besondere Wert ihrer Arbeit liegt darin, einen Raum für wahrhaftige Welt- und Selbsterfahrung zu schaffen. Bei uns baut das Kind eine Hütte, es kämpft mit seinen Verbündeten mit selbst geschnitzten Waffen gegen »feindliche« Banden, schneidet das Gemüse fürs Mittagessen, erntet Äpfel und macht Saft daraus, füttert Tiere und zähmt sie, filzt Taschen und Puppen, begräbt einen toten Vogel, schlägt den Gong nach dem Mittagessen und spürt dem Ton bis zum letzten wahrnehmbaren Klingen nach, weint über eine Trennung, lacht über seinen eigenen Rekord beim Seilspringen – kurz: es reibt sich an und mit der Welt in ständiger innerer und äußerer Bewegung. Eine Auseinandersetzung mit der Welt findet auch im Unterricht statt, aber sie hat in dem Freiraum des Hortes eine andere Qualität. Eben gerade weil die Erfahrungen hier frei sind, frei vom Lehrplan, frei von der Kindergartenverordnung, frei von Erwartungen.

Die Kinder sind hier auch nicht in einem Klassenverband und sollen dies auch überhaupt nicht sein müssen. Hier muss Raum gegeben werden für die individuellen Erfahrungen, wann und wie die Kinder sie brauchen. Als Individuum wahrgenommen zu werden, ist von existenzieller Bedeutung.

Unterhaltung, Spielereien, Theater, Töpfern und Schulaufgaben gehören für Steiner zu den Aktivitäten im Hort. In der Lehrerkonferenz vom 22. Dezember 1919 formulierte Rudolf Steiner außerdem: »Man soll dabei selbst zum Kinde werden, soll die Kinder lachen machen. Sie sollten im Hort anderes tun als Schultätigkeit. Die Kinder sollen nur fühlen, dass man da ist, wenn sie etwas brauchen. Von besonderem Wert ist es, sich von den Kindern ihre Erlebnisse erzählen zu lassen. Man muss sich interessieren dafür. Es ist gesundend, wenn ein Kind sich aussprechen kann.«

Zur Autorin: Helen Mäurer ist Sozialpädagogin und Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache. Sie arbeitete in Waldorfeinrichtungen in Deutschland und Brasilien und ist momentan Gruppenleiterin in der Ogata der Rudolf Steiner Schule Mönchengladbach.

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