Lebensstil, Gesundheit und Pädagogik

Thomas Marti

Wenn wir von »Lebensstil« sprechen, meinen wir die Art und Weise, wie jemand sein Leben führt und gestaltet. Oft wird damit exklusive Lebensart gemeint, wie sie in einem besonderen Kleidungs- und Wohnstil zum Ausdruck kommt, einem spezifischen Sprachgestus oder der Bevorzugung eines gewissen sozialen oder kulturellen Milieus. Aber nicht nur äußere Merkmale gehören zum Lebensstil, sondern auch bestimmte Meinungen über das soziale Zusammen­leben, über Sexualität, Erziehung, Gesundheit und Er­nährung, über den Umgang mit Geld oder die Bedeutung von materiellem Eigentum.

»Lebensstil« hat sehr viel mit dem Lebensgrundgefühl und mit Weltanschauung zu tun und ist Inbegriff all dessen, was ein Mensch für wichtig hält – und natürlich auch, was ihm unwichtig scheint. »Lebenstil« ist Ausdruck einer bestimmten Gesinnung und hat damit auch eine moralische Komponente.

Es versteht sich von selbst, dass jeder Mensch mehr oder weniger bewusst seine eigene Lebensphilosophie verfolgt und seinen eigenen Lebensstil pflegt. Insofern ist Lebensstil nichts Exklusives, er bestimmt die »Wellenlänge«, auf der wir miteinander kommunizieren, und ist daher gemeinschaftsstiftend. Ein Lebensstil ist also nicht nur individuell, sondern immer auch kollektiv. Man könnte sagen, dass der Lebensstil so etwas ist wie die verinnerlichte Alltagskultur, die wir mit Leib und Seele pflegen und die uns in einem gewissen Maße unsere Identität verleiht.

Krankheit entsteht in Wechselwirkung mit der Umwelt

Der Lebensstil hat in den vergangenen Jahren in der Gesundheitsforschung eine zentrale Bedeutung gewonnen. Anlass dafür war die Erweiterung unseres Verständnisses von Gesundheit und Krankheit: Besonders durch die von Aaron Antonovsky in den 1970er-Jahren begründete Salutogenese ist deutlich geworden, dass Gesundheit und Krankheit nicht »im« Menschen oder »in« der Umwelt »drin« sind, sondern dass sie quasi im »Dazwischen« entstehen, also im dynamischen Wechselverhältnis von Mensch und Umwelt.

Gesundheit und Krankheit sind relativ und wandelbar. Es gibt Menschen, die in einer verseuchten oder kränkenden Umwelt leben und trotzdem kerngesund sind; andere kränkeln ständig, obwohl ihre Umwelt keinen erkennbaren Anlass dazu gibt. Entscheidend ist hier das »Trotzdem«: Es deutet darauf hin, dass das Gesunden und Erkranken bedingt sind durch die Umstände, mit denen sich ein Mensch aktiv auseinandersetzt und die er dadurch mehr oder weniger aktiv mitprägt. Auf der körperlichen Ebene findet diese Auseinandersetzung durch das Immunsystem statt. Es fungiert als physiologischer »Türsteher« und entscheidet, was an Fremdsubstanzen vom Organismus aufgenommen und assimiliert wird und was nicht. Seelisch-geistig heißt dieser Türsteher »Ich« oder »Selbst«: Es steht als gesetzgebender Souverän an der Schwelle zwischen Außenwelt und seelischer Innenwelt und bestimmt ihr Verhältnis zueinander.

Die Genesung kann nur vom Kranken ausgehen

Natürlich ist jemand, der erkrankt, nicht in jedem Fall »selber schuld«. Alles Moralisieren ist hier fehl am Platz. Trotzdem haben Krankheiten ihre Geschichte und sind mit dem Leben eines Menschen biografisch verbunden. Oft wird ein Mensch mit einem bestimmten Leiden selber nicht fertig und benötigt darum therapeutische Hilfe. Entscheidend aber ist, dass die Genesung – so paradox es klingt – nur vom erkrankten Menschen ausgehen kann. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Gesundheit lässt sich nicht »machen«. Deshalb reicht es in vielen Fällen auch nicht aus, einfach nur folgsam und regelmäßig die verschriebenen Medi­ka­mente zu schlucken. Nicht selten müssen die Lebens­umstände verändert werden, die zur Erkrankung geführt haben. Unter Umständen bedeutet dies eine grundlegende und exis­ten­zielle Neuorien­tierung im Leben. Jetzt ist der betreffende Mensch in seinem Selbst oder Ich aufgerufen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen.

Im Lebensstil liegen nicht nur Chancen der Gesundung, son­dern auch Gefahren der Erkrankung. Seit längerem ist bekannt, dass ein von materieller Armut geprägter Lebens­stil mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Insbesondere Kinder sind gefährdet, wenn die Armut mit Mangelernährung, sozialer Verwahr­losung und einem niedrigen elterlichen Bildungsstand einhergeht. Zwangsläufig ist eine Erkrankung bei Armut aber nicht, da dieser Risikofaktor durch menschliche Zuwendung gemildert werden kann. Das religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis der Erwachsenen scheint dabei nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist allein, dass die »Lebensphilo­sophie« kein bloßes Lippenbekenntnis darstellt, sondern für die Kinder alltäglich erlebbar ist. Das macht sie trotz materieller Benachteiligungen stark und widerstandsfähig gegen kränkende Situationen.

Menschliche Kompetenz zählt mehr als der Lehrplan

Solche aus der Resilienzforschung stammenden Erkenntnisse sind zentral für eine Päda­gogik, welche die gesunde leibliche und seelische Entwicklung der Kinder zu ihren Hauptanliegen zählt. Offenbar sind dafür nicht in erster Linie Lehrpläne, Schulkonzepte und die Unterrichtsorganisation ausschlaggebend, sondern vielmehr die menschlichen Kompetenzen, die die Kinder tatsächlich an den Erwach­senen erfahren. Was ein Kind stärkt und schützt, ist das Selbstvertrauen, das Erwachsene in ihm fördern, es ist die enge Bindung an mindestens eine menschlich kompetente und verlässliche Person, eine Erziehungsorientierung mit klaren Strukturen und Regeln, eine religiöse Überzeugung und das gelebte Gefühl, dass dem Leben Sinn und eine (höhere) Bedeutung zukommt, – nicht zuletzt auch das Vertrauen, dass sich trotz Not und Schmerzen die Dinge am Ende zum Guten wenden.

Resilienzforscher rechnen die Erfüllung lehrplanbestimmter Erwartungen, also schulische Leis­tungen im herkömm­lichen Sinn, nicht zu den Faktoren, die Kinder stärken, ebensowenig wie methodisch-didaktische Kompetenzen der Lehrer. Dagegen haben deren menschliche Kompetenzen eine große Bedeutung für das Wohlergehen der Kinder. Zwar wird nicht gesagt, dass Schulisches unwichtig sei, aber schulische Leis­tungen haben offenbar nur insofern gesundheitliche Bedeutung, als sie beim Kind das Gefühl nähren, etwas zu wissen oder zu können, lernfähig zu sein und dadurch in seinen Fähigkeiten wachsen zu können. Dieses Gefühl vergrößert die Erfahrung der Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«), die für eine gesunde Entwicklung des Kindes umso förderlicher ist, als es auch die Erfahrung eines sinnvollen und bedeutungshaften Lernens machen kann.

Was fördert die Gesundheit von Kindern im Alter der Einschulung?

In einer breit angelegten Studie haben wir die Gesundheit von Kindern aus dem Kindergarten sowie der ersten und zweiten Klasse in Waldorf- und staatlichen Grundschulen erhoben und verglichen. Dabei ging es nicht um einen Vergleich von Schulen mit unterschiedlichen Konzepten, sondern um eine Untersuchung der Kinder und ihrer Gesundheit vor dem Hintergrund des familiären Lebensstils. Wir sind also davon ausgegangen, dass die Gesundheit der Kinder mehr mit dem Lebensstil zu tun hat, der die Eltern zur Wahl eines pädagogischen Konzeptes motivierte und weniger mit der Schule als solcher. Ausgewählt wurden Schulen, in deren Elternschaft vergleichbare demografische, sozio-ökonomische und kulturelle Gegebenheiten zu erwarten waren.

Als Ergebnis seien hier folgende Punkte hervorgehoben:

• Bezüglich des elterlichen Einkommens, der Berufsausübung, familiären Verhältnisse, materieller Lebenssituation, des Bildungsstands oder der Kulturorientierung gibt es zwischen der Elternschaft an den erhobenen staatlichen und Waldorfschulen keine nennenswerten Unterschiede.

• Markante Unterschiede gibt es hinsichtlich der Wahl von medizinischen Behandlungsmethoden und bei der Gesundheitsvorsorge (zum Beispiel Ernährung, Stilldauer, Impf­praxis, Antibiotikagaben). Ebenso deutliche Unterschiede zeigen das Engagement der Eltern für die Schule, das Interesse an pädagogischen Fragen, die Bildungserwartungen an die Schule sowie die tatsächlich praktizierte Familienkultur (zum Beispiel Vorlesen und Geschichtenerzählen, Musi­zieren, Medienkonsum, Gute-Nacht-Rituale).

• Eltern, die angeben, bei ihnen spiele eine weltanschauliche, religiöse oder spirituelle Grundüberzeugung eine wichtige Rolle, sind in den erhobenen Waldorfschulen in der Mehrzahl. Aber nur gerade neun Prozent geben an, eine ausgeprägt anthroposophische Lebenseinstellung zu haben.

• Die Schulfreude der Kinder korreliert deutlich mit dem Engagement der Eltern und ihrer Zufriedenheit mit der Schule.

• Unter den erhobenen Waldorfschülern sind psychosomatische Beschwerden (Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Nervosität und Konzentrationsstörungen) weniger verbreitet. Ebenfalls weniger häufig sind Allergien, insbesondere Heuschnupfen und Asthma.

Ein spirituelles Leben macht gesund

Interessant ist nun die Tatsache, dass es unabhängig vom pädagogischen Konzept der Schulen einen statistisch signifikanten Zusammenhang gibt zwischen der spirituellen oder religiösen Lebensanschauung der Eltern und dem Auftreten von psychosomatischen wie auch von allergischen Beschwerden ihrer Kinder.

Gehen wir davon aus, dass sich der familiäre Lebensstil im Wesentlichen aus der spirituellen oder religiösen Lebensanschauung der Eltern ergibt und damit auch den Umgang mit gesundheitlichen Fragen bestimmt, dann ist der von uns gefundene Zusammenhang für die pädagogische Praxis von eminenter Bedeutung. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die weltanschauliche Orientierung der Eltern keine nur

private Angelegenheit ist, sondern auch von öffent­lichem Interesse sein müsste, wenn man die gegenwärtige Überlastung der Gesundheitssysteme in Betracht zieht. Aus unserer Studie ergibt sich auch der Hinweis, dass Kinder von Eltern mit einer spirituellen Lebens­einstellung nicht nur weniger unter psychosomatischen und allergischen Beschwerden leiden, sondern auch geringere Krankheitskosten verursachen und deshalb für die Kranken­versicherungen eine geringere Belastung darstellen.

Zum Autor: Thomas Marti, geboren 1949, studierte Biologie, Chemie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Bern. Bis 1989 Lehrer an der Oberstufe der Rudolf Steiner Schule Bern und Ittigen. Seitdem u.a. Dozent für Biologie und Anthropologie an der Freien Hochschule Mannheim. Publikationen und derzeitige Forschungsgebiete: siehe unter www.projektart.de.vu. Er hat drei Kinder und lebt in Hamburg.

Literatur:

T. Marti: Wie kann Schule die Gesundheit fördern? Erziehungskunst und Salutogenese, Stuttgart 2006

Ders. und P. Heusser: Gesundheit vier- bis achtjähriger Kinder vor dem Hintergrund des familiären Lebensstils. Eine retrospektive Querschnittstudie an Kindern aus Schulen in der Stadt Bern und Umgebung. Bern, Berlin, Oxford, New York, Wien 2009 (siehe auch die Rezension auf Seite 77 in dieser Ausgabe)

G. Opp (Hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, Basel 1999