Lebensvoll konkret

Mathias Maurer

Wie war die eigene Wortschöpfung für baden? – »lalchen!« – Wie für schiefe Absätze? – »abversen!« – Wie für Schluckauf? – »aufhicksen«. Während der exakte, lexikalische Begriff Wort und Bedeutung auf den Punkt bringt, sucht das Bild nach Kontext. Wenn Sie sagen: »Davon kann ich mir keinen Begriff machen«, dann fehlt der Zusammenhang zum konkreten Begriff, wenn Sie sagen: »Davon kann ich mir kein Bild machen«, dann fehlt der konkrete Zusammenhang zum Ganzen.

Was einmal mit allen Sinnen buchstäblich er- und begriffen wurde, droht rasch zur abstrakten Vorstellung, ja zum Vorurteil zu gerinnen, wenn Begriffe nicht bewusst vergessen, immer wieder neu begriffen, »ertastet« und erarbeitet werden. Sie geraten gnädigerweise mit der Zeit von allein in
Vergessenheit, bleibt man nicht in Übung, und man muss wieder von vorne beginnen. – Oder was für ein Bild entsteht in Ihnen, wenn Sie »Stochastik« (Mathematik, 11. Klasse), »Metonymie« (Deutsch, 12. Klasse) oder »Kunst=Kapital« (Beuys, Kunstunterricht 12. Klasse) hören? – Und meint man, es endlich begriffen zu haben, halten wir unsere Vorstellungen fest, wehren wir uns gegen kreative Neuentdeckungen, stehen doch alle gesicherten Erfahrungs- und Wissensschätze auf dem Spiel, die statt Neugier und Staunen Gegenrede evoziert. Dagegen gilt es, die Begriffe wieder so zu verlebendigen, dass sie wieder zum Bild werden, mitwachsen, sich erweitern.

Das hätte Folgen bis in das soziale Leben hinein. In der Schrift Die Erziehungsfrage als soziale Frage kritisiert Rudolf Steiner, dass wir nicht von unseren gewohnten abstrakten Begriffen, die die äußere Welt beschreiben, loskommen. Viel wichtiger sei, dass wir zuerst unsere Begriffe innerlich empfindend umgestalten, damit wir die äußeren Verhältnisse verändern können. »Wir brauchen andere Köpfe auf den Schultern.« Man müsse – so Steiner in der Vortragsreihe Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen – wieder in ein imaginatives Vorstellen kommen, indem man versuche, »dem Sprachgenius abzulauschen, was den Worten Konkretes zugrunde liegt.« Der Mensch fühle zwar eine große Befriedigung, wenn er abstrakt denke, weil er damit von der sinnlich-konkreten Wirklichkeit loskomme, aber er falle dadurch in »Vorstellungslöcher«, anstatt die Wirklichkeit mit seinen Vorstellungen bildhaft empfindend zu »durchleuchten«. Wir müssen wieder lernen, in Bildern zu denken. –

Mit dem Masernimpfgesetz, das Ende März in Kraft treten soll, ist das Thema Impfen wieder virulent. Die Waldorfschulen werden in den Medien als virale Masernschleudern dargestellt und Impfskeptiker als »brunsblöde«. In unserer Rubrik »Forum / Gegenlicht« eröffnen wir die Diskussion mit zwei unterschiedlichen Perspektiven.