Lehrermangel – was tun? Dirk Rohde im Gespräch mit der Redaktion

Dirk Rohde, Redaktion

Erziehungskunst | Herr Rohde, spiegelt sich in dem Waldorflehrermangel an den deutschen Waldorfschulen nur eine allgemeine Situation, von der auch die Schulen in staatlicher Trägerschaft betroffen sind?

Dirk Rohde | Nur teilweise. Da die Waldorfschulen viel höhere Anforderungen an ihre Lehrer stellen – wie zum Beispiel Zusatzqualifikationen, Engagement in der Selbstver­waltung, bei gleichzeitig zum Teil deutlich niedrigerem Gehalt –, ist der Lehrermangel in den Waldorfschulen wesentlich ausgeprägter als beim Staat. Die Gewinnung qualifizierter junger Nachwuchskräfte ist die zentrale aktuelle Aufgabe unserer Bewegung.

EZ | Waldorfschüler müssten die Vorzüge unserer Pädagogik am besten kennen. Warum werden nicht mehr ehemalige Schüler Waldorflehrer?

DR | Viele Ehemalige drücken ihre Wertschätzung dadurch aus, dass sie positiv über ihre Schulzeit sprechen und für ihre Kinder gerne wieder Waldorfpädagogik haben wollen. Gleichzeitig wissen sie aber am besten, was es heißt, Waldorflehrer zu sein. Offensichtlich haben sie in dieser Hinsicht zu wenig Erstrebenswertes erlebt.

EZ | Liegt das am niedrigen Gehalt?

DR | Die meisten Waldorflehrer sind heute finanziell wesentlich besser dran als frühere Generationen; insbesondere in den Gründungsphasen nach den Weltkriegen waren die Gehälter extrem niedrig. Das hat dennoch viele engagierte und sehr qualifizierte Persönlichkeiten nicht davon abgehalten, für die Bewegung tätig zu sein. Die Gehälter sind jedoch bis heute immer noch deutlich niedriger als beim Staat. Wer dann nicht durch die freieren pädagogischen Möglichkeiten genügend stark motivierbar und/oder anderweitig finanziell zusätzlich abgesichert ist, landet erfahrungsgemäß rasch beim Staat.

EZ | Können sich junge Kollegen an Waldorfschulen nicht genug entfalten?

DR | Wenn junge talentierte Lehrerinnen und Lehrer mit ihnen wichtigen, innovativen Impulsen in schon länger etablierten Kollegien auf nicht genügend Resonanz stoßen, schauen sie sich auch intensiv nach anderen Betätigungsfeldern um, denn der gesamte Alternativschul-Sektor ist enorm angewachsen und bietet eine Fülle interessanter Möglichkeiten.

EZ | Hängt der Lehrermangel der Schulen mit einer Krise ihrer gedanklichen Grundlagen, der Anthroposophie, zusammen?

DR | Ja, meines Erachtens sogar zentral; aber nicht die Anthroposophie selbst ist in einer Krise – im Gegenteil, sie erweist sich als aktueller und fruchtbarer denn je. Das erschließt sich einem jedoch nur, wenn man sich kontinuierlich mit ihr auseinandersetzt. Und dieses existenzielle, sich wie ein Lebensbedürfnis äußernde Interesse an ihr empfinden zunehmend weniger Zeitgenossen – auch in den Kollegien. Dadurch werden die Waldorfschulen für diejenigen immer unattraktiver, die genau das suchen und die zugleich die Wichtigsten sind für die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik.

EZ | Braucht ein Waldorflehrer überhaupt Anthroposophie, und wenn ja, was ist das spezifisch Anthroposophische an der Waldorfpädagogik?

DR | Letzteres ist die anthroposophische Menschenkunde, und zumindest deren gründliche Kenntnis braucht jeder Waldorflehrer, wenn er an einer Waldorfschule im eigentlichen Sinne tätig sein will. Ist nicht einmal diese Grundlage vorhanden, kann man höchstens helfen, dass eine Waldorfschule als Institution erhalten bleibt, aber zu ihrem Kernanliegen, aus dem sie ihre Existenzberechtigung schöpft, kann man dann nichts Wesentliches beitragen.

EZ | Haben sich die Waldorfschulen zu sehr an den Mainstream angepasst? Haben sie ihr Profil verloren?

DR | Diese Anpassung ist inzwischen weit fortgeschritten. Sie ist durch die zahlreichen Kompromisse erfolgt, die man gegenüber der von Rudolf Steiner entwickelten Ursprungsidee teils eingehen musste, teils aus Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit halb bewusst eingegangen ist. Das Waldorfprofil ist zwar noch klar erkennbar, hat sich aber anderen Schulprofilen weit angenähert, wobei auch alle anderen Schultypen an diesem Prozess einer allgemeinen Assimilation aktiv teilnehmen. Eine der Konsequenzen daraus ist die schwierige Nachwuchsgewinnung.

EZ | Müssen sich die Waldorfschulen stärker gegenüber anderen Schultypen abgrenzen?

DR | Nein, das wäre eine unfruchtbare, an Äußerlichkeiten orientierte Handlungsweise. Man muss wie ein Organismus von innen her vorgehen: Stärkung der Kernkompetenz, also Weiterentwicklung und erstklassige Umsetzung der anthroposophischen Menschenkunde; daraus entsteht von selbst genügend eigene Kraft. Ständiges Vergleichen mit anderen schwächt unnötig.

EZ | Was müssen die Waldorfschulen tun, um mehr Lehrer zu gewinnen?

DR | Mutig eine Fülle neuer Initiativen und dadurch Ausstrahlungskraft entfalten und in die Universitäten gehen, also dorthin, wo die vielen hoch motivierten angehenden Pädagogen sind. Die müssen wir versuchen, mit attraktiven Angeboten dauerhaft zu gewinnen. Aktiv diejenigen persönlich ansprechen, die man braucht – nicht warten, bis jemand kommt. Es wird höchste Zeit!