Bildungsaspekte kulturkundlicher Fächer

Rita Schumacher

Überwindung des binären Denkens

Was hier mit dem behelfsmäßigen Ausdruck »binäres Denken« bezeichnet wird, charakterisiert eine Struktur des abendländischen Denkens, die von dem Erlebnis einer schier unüberbrückbaren Kluft zwischen dem erkennenden Menschen und der ihn umgebenden Welt gekennzeichnet ist.

Die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften haben in den letzten Jahren diese Kluft und ihre problematischen Auswirkungen auf das Verhältnis des Menschen zur Bio­sphäre, der Menschen untereinander und des Menschen zu seiner eigenen Leiblichkeit thematisiert.

Der Soziologe Armin Nassehi schlägt in seinem 2019 erschienenen Buch Muster eine ungewöhnliche Blickrichtung ein: Man müsse untersuchen, auf welche Frage die Digitalisierung antworte. Er schlägt dazu einen geistesgeschichtlichen Bogen: Die Grundlagen der Geisteshaltung, welche die Digitalisierung nach sich gezogen hat, sieht er in der Entwicklung statistischer Verfahren seit dem 18. Jahrhundert. Diese fördern Muster zutage, die wissenschaftliche Aussagen – beispielsweise über menschliches Verhalten – ermöglichen, aber selbst keinem menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgang mehr entspringen. Auf individuellen Erfahrungen beruhende Erkenntnis wird damit fragwürdig. Die statistische Konstruktion eines »Mittelwertmenschen« nivelliert jegliche individuelle Besonderheit.

Nassehi nennt das die »Verdoppelung der Welt in Datenform« und stellt fest, dass die binäre, digitale Ordnung der Welt bereits vor der Entstehung der digitalen Medien als geistige Grundstruktur vorhanden war und in der Digitalisierung nur die ihr entsprechende Technik gefunden hat.

Die italienische Soziologin Elena Esposito stellt ihre Gegenwartsdiagnose ebenfalls in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang durch die Beobachtung, dass im 17. Jahrhundert zeitgleich die Erfindung des Romans und der Wahrscheinlichkeitsrechnung stattfand und damit die scharfe Trennung zwischen Realität und Fiktion ihren Anfang nahm – mit einer im Weiteren verhängnisvollen Verwechslung: Fiktion wurde nicht in ihrem Wirklichkeitsgehalt, statistische Modelle wurden nicht als Fiktionen durchschaut.

Mit dieser Beobachtung Espositos stellt sich eine Frage, die den Stellenwert der Kultur insgesamt betrifft: In welchem Verhältnis steht das menschliche Vorstellungsvermögen zur Welt, wie stehen die durch Vorstellungskraft hervorgebrachten Gegenstände der Kulturwissenschaften zu den »harten Fakten« der Naturwissenschaften?

Die New Yorker Schriftstellerin Siri Hustvedt stellt die Frage nach der Vorstellungskraft als wesentlichem anthropologischen Vermögen und als Grundlage aller kulturellen Produktion ins Zentrum von Überlegungen, die auf einer brisanten kulturgeschichtlichen Beobachtung basieren: Die Menschenbilder und der Weltbezug, die seit Beginn der Neuzeit formuliert wurden, verwandeln sich heute in zunehmendem Maße in konkrete Lebensrealität. Auch Hustvedt charakterisiert diese als ein binäres Welterleben, das auf einer strikten Trennung zwischen dem Sein der Welt und dem menschlichen Bewusstsein beruht. Hustvedt führt einige kulturelle Symptome der Gegenwart an, die deutlich machen, dass dieses binäre System längst aus der philosophischen Spekulation in die Lebenspraxis übergegangen ist: Der Mensch als Medienkonsument ist reduziert auf seine Zuschauerrolle gegenüber dem Weltgeschehen, seine Entfremdung von der Bio­sphäre resultiert in einem technokratischen Bezug zur Natur. Ein Merkmal der Entfremdung der Menschen untereinander ist die Bildung von Stereotypen, die zwischenmenschliche Begegnung verhindern. Die Entfremdung vom eigenen Leib sowie vom eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen sieht sie im Zusammenhang mit dem schon beschriebenen Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung und Erkenntnis.

Doch münden Hustvedts Ausführungen nicht in ein kulturpessimistisches Szenario, vielmehr geht sie der Frage nach, inwiefern die Wiederentdeckung der Vorstellungskraft bzw. der Phantasie als zentralem menschlichen Vermögen einen Ausweg aus dem binären Gefängnis weisen könnte. Phantasie ist nach Hustvedt nicht nur Teil der Subjektivität, sondern gerade ein Vermögen, das als bildschöpferische Tätigkeit zwischen Bewusstsein und Welt vermittelt. Somit wird die Phantasie zum Instrument der tätigen Welterschließung.

Damit einher geht auch die Aufwertung der Kulturwissenschaften – Kultur ist kein »Add-on« bzw. »Freizeit-Sahnehäubchen« zu den harten Fakten der Wirklichkeit, sondern ein eigenständiger, nichtdualistischer Weltzugang.

Die Einübung eines solcherart nichtdualistischen Weltzugangs kann somit als zentrale Aufgabe der kulturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer angesehen werden.

Diese Art von Erkenntnis kann nicht monadisch-monologisch strukturiert sein, sondern gestaltet sich dialogisch und multiperspektivisch.

Multiperspektivität

Die Waldorfpädagogik ist mit der Gründung von Schulen in aller Welt zu einer menschheitlichen Pädagogik geworden. Diese Entwicklung stellt, gerade auch mit dem Blick auf die kulturwissenschaftlichen Fächer, die selbstredend in jedem kulturellen Umfeld einer jeweils eigenen Realisierung bedürfen, eine große Chance für ihre zeitgemäße Transformierung dar. Die nur dialogisch zu beantwortende Frage, wie sich die kulturkundlichen Inhalte des Waldorflehrplans in unterschiedlichen kulturellen, religiösen, sprachlichen und geographischen Kontexten jeweils individuell gestalten können, kann helfen, Äußerlichkeiten und gewohnheitsmäßig Tradiertes abzustreifen bzw. den bildungsrelevanten Kern herauszuschälen und dadurch auch Bewährtes neu zu begründen.

Ein reiches Erfahrungsfeld hierfür bieten etwa die mittlerweile seit über zehn Jahren bei den Internationalen Fortbildungswochen in Kassel etablierten Seminare zur multiperspektivischen Kulturkunde, in denen die relevanten Urteilsaspekte der verschiedenen Jahrgangsstufen der Oberstufe aus der Perspektive unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Literaturen beleuchtet werden. In den Seminaren zur Geschichte in Multiperspektive etwa werden unterschiedliche Geschichtsnarrative miteinander ins Gespräch gebracht, in den Seminaren zur Komparatistik stehen neben dem Austausch über Lektüren und Filme immer wieder auch kulturtheoretische Betrachtungen im Zentrum.

Ein zentraler Gedanke, den Martyn Rawson im Rahmen des Komparatistik-Seminars bei der diesjährigen Internationalen Fortbildungswoche äußerte, mag die grundlegende Bildungsrelevanz dieses multiperspektivischen Ansatzes verdeutlichen: Im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit eines zeitgemäßen Verständnisses von »Weltliteratur« führte Rawson ein Diktum Walter Benjamins an, wonach alles Verstehen ein Übersetzen sei, der Übergang von einer Sprache und Kultur in eine andere somit nur einen Sonderfall des Übersetzens darstelle. Dieser Gedanke weist auf eine anthropologische Tiefen­struktur, welche die Bildungsrelevanz von Multiperspektivität verdeutlicht: Multiperspektivität ermöglicht einerseits eine Horizonterweiterung durch das Kennenlernen von Neuem, eröffnet aber auch neue Perspektiven auf das Vertraute und vermeintlich Bekannte.

Somit stellt sie ein wichtiges Erfahrungsfeld in einer globalisierten Welt dar, in der einerseits multiple Begegnungsmöglichkeiten vorhanden sind, andererseits aber auch zunehmend verschiedene Perspektiven in Form von Gruppenidentitäten, Communities oder auch »Filterblasen« unvermittelt aufeinanderprallen. Oftmals ersetzt dann der Meinungskampf die gemeinsame Urteilstätigkeit, deren Pflege ebenfalls ein großes Übungsfeld des kulturkundlichen Unterrichts darstellen kann.

Urteilen

Eine weitere Folge des binären Weltbezuges ist das Auseinanderfallen von Wissen und Meinen, das momentan auch die öffentliche Diskussion dominiert.

Die Journalistin Antje Schrupp beschreibt in ihrem Essay Weder meinen noch wissen, sondern: urteilen die schon in dessen Titel genannten drei möglichen Arten, in der öffentlichen Diskussion zu argumentieren. Das Wissen beruft sich auf objektive Fakten, wohingegen das Meinen eine subjektive Haltung kundtut – beiden Argumentationsformen gemeinsam ist, dass sie keinerlei Verantwortung für das Geäußerte fordern. Anders ist dies beim Urteil. Hier verbindet sich objektives Wissen mit subjektivem Meinen, indem Urteile gemeinsam sachbezogen gebildet, aber individuell verantwortet werden – ein Vorgang, der ein demokratisches Gemeinwesen erst ermöglicht.

Ein geeignetes Übungsfeld für Urteilstätigkeit liegt in dem allgemeindidaktischen Fundament der Waldorfpädagogik, der dreigliedrigen Struktur des Hauptunterrichts, wozu ein reicher Erfahrungsschatz in der Anregung gemeinsam getätigter Urteilsvorgänge im Unterricht vorliegt. Gleichzeitig ist dieses Potential noch längst nicht ausgeschöpft und erscheint gerade im Hinblick auf die kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer weiter entwicklungsfähig.

Alle drei genannten aktuellen Bildungsaspekte der kulturkundlichen Fächer münden in ein gemeinsames pädagogisches Ziel: die Entwicklung eines ebenso basal erlebten wie bewusst reflektierten Vertrauens in die Wirklichkeit und Wirksamkeit des eigenen schöpferischen Vermögens, das zugleich zum Organ der Weltbegegnung und zur Voraussetzung für freilassende Sozialität werden kann.

Zur Autorin: Rita Schumacher ist Oberstufenlehrerin für Deutsch und Geschichte sowie Dozentin für Deutsch, Geschichte und waldorfpädagogische Grundlagen am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel

Literatur: A. Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München 2019 | E. Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M. 2007 | A. Schrupp: »Weder meinen noch wissen, sondern: urteilen«. In: D. Blume, M. Boll, R. Gross (Hrsg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Begleitband zu einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 27. März bis zum 18. Oktober 2020. München 2020