Wozu sollten Waldorfschulen heute erziehen?

Stefan Grosse

Die Naturwissenschaften beherrschen die Tagesdiskussion. Das Alltagsleben richtet sich nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Naturwissenschaftliche Neuigkeiten haben mehr Gewicht als geisteswissenschaftliche. Die Anwendbarkeit, das Ingenieursmäßige an den Forschungsergebnissen steht im Vordergrund. Nachgerade signaturhaft für die Gegenwart steht die Omnipräsenz des Computers und damit verknüpft das Denken in Algorithmen. Mit dem Computer haben wir praktisch eine neue Realitätsebene geschaffen.

Zeitgenossenschaft damals ...

Blicken wir kurz in die Geschichte, um den letzten Gedanken etwas zu vertiefen. In sehr alten Zeiten beherrschten Götter die Welt. Götter wurden befragt, Theokratien waren die vorherrschenden Gesellschaftssysteme, ein Gott gab die 10 Gebote usw. Es existierte eine Realität über der äußeren Welt, die mehr Gewicht hatte als diese selbst. Mit dem Imperium Romanum veränderte sich das. Menschen – nicht mehr Götter – bestimmten die Rechtsbeziehungen, gewählte, »normale« Menschen, nicht mehr Gottkönige exekutierten die Staatsmacht, die Götter kamen ins Museum (Pantheon) und traten im menschlichen Alltag mehr und mehr zurück. Die äußere, sinnenfällige Realität wurde vorherrschend. Mit Beginn der Neuzeit entwickelte sich das individuelle Lebensgefühl dahin, dass die äußere Welt die einzige Realität sei; es entstand der positivistische Blick auf die Welt.

... und heute

Und heute? Das elektronische Bild der äußeren Welt ist das handlungsleitende Reale. Man muss nicht mehr an den Himmel schauen, um das kommende Wetter einzuschätzen, man schaut auf den Bildschirm. Piloten lernen am Flugsimulator Extremsituationen beherrschen. Krieg findet auf dem Bildschirm statt, indem irgendwo, beispielsweise in Deutschland oder in den USA, Soldaten in abgedunkelten Räumen Flugdrohnen per Joystick ins Ziel lenken. Computerspiele imitieren die reale Welt. Das MRT erzeugt ein errechnetes Bild des Körperinneren – kein Abbild! Wir leben in vielen Bereichen heute in einer elektronischen Realität.

Für die Gegenwart erziehen

In diese digitalisierte und technologische Welt entlassen wir unsere Schüler, für diese müssen wir sie lebenstüchtig machen. Auf diese Aufgabe wies Rudolf Steiner in einem pädagogischen Vortrag mit folgenden Worten hin:

»Daher ist es durchaus auf eine wahre Menschenerkenntnis begründet, wenn wir uns im Erziehungs- und Unterrichtswesen bemühen, den Menschen von den Zeitpunkten an, wo er durch die Geschlechtsreife hindurchgeht, praktisch in diejenigen Seiten des Lebens einzuführen, die vom Menschen selbst hervorgebracht worden sind. ... Bedenken Sie nur, wieviel unserer ganzen Zivilisation nach dieser Richtung hin eigentlich fehlt. Fragen Sie sich einmal, ob es nicht zahlreiche Menschen gibt, die sich heute des Telephons, des Tramway bedienen, ja man kann sogar sagen, des Dampfschiffes bedienen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was da eigentlich geschieht im Dampfschiff, im Telephon und in der Fortbewegung des Tramwaywagens. Der Mensch ist ja innerhalb unserer Zivilisation ganz umgeben von Dingen, deren Sinn ihm fremd bleibt. Das mag denjenigen als unbedeutend erscheinen, die da glauben, für das Menschenleben habe nur das eine Bedeutung, was sich im bewussten Leben abspielt. ... aber für dasjenige, was sich in den Tiefen der menschlichen Seele abspielt, ist es eben nicht gleichgültig; der Mensch in einer Welt, deren er sich bedient, und deren Sinn er nicht versteht, ist wie ein Mensch in einem Gefängnis ohne Fenster, durch das er in die freie Natur hinausschauen könnte. Von dieser Erkenntnis muss Erziehungs- und Unterrichtskunst gründlich durchzogen sein.«

Rudolf Steiner: Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens, 1921, GA 303, S 254 ff.

Seit diese Sätze gesprochen wurden, sind 100 Jahre vergangen. Wenn man sie sinngemäß für die Gegenwart auslegt, müsste man sagen, kein Mensch sollte ins Leben entlassen werden, der nicht – zumindest dem Prinzip nach – versteht, wie ein Smartphone funktioniert.

Nun gibt es ja den Begriff des »Digital Native«. – Und man hat wirklich den Eindruck, dass Menschen in ihre Zeit eintreten, als wären sie schon über sie belehrt. Menschen wollen in ihrer Epoche leben, sie sind nicht zufällig in diese Zeit gefallen. Sie brauchen ihr jeweiliges Umfeld, um ihre Persönlichkeitsentwicklung in einem ihnen gemäßen Sinn vollziehen zu können. Und sie bringen Widerstandskräfte mit, die sie auch die problematischeren Zeiterscheinungen bis zu einem gewissen Grade unbeschadet überstehen lassen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mit unseren Bildungsbemühungen, mit unseren Lehrplänen wirklich in die Gegenwart einführen, nicht in eine liebgewonnene Vergangenheit, die eben keine Realität mehr ist.

Ein Jahrhundert – zwei Biografien im Vergleich

Um das hier Gemeinte besser verstehen zu können, vergleichen wir doch einmal zwei fiktive Biografien, die 100 Jahre auseinanderliegen: Ein Kind, geboren 1912, tritt siebenjährig in die erste Klasse der 1919 gegründeten ersten Waldorfschule in Stuttgart ein. Was erlebte es als Zeitgenosse? In früher Kindheit den Ersten Weltkrieg, danach die Hyperinflation, die Weltwirtschaftskrise, den Staatsterror der Nationalsozialisten, den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg. 50 Jahre geprägt von Krieg und äußerer Gewalt, viele davon auch von materieller Not. Stellen wir daneben ein erdachtes Leben 100 Jahre später. Ein Kind, geboren 2012 in Stuttgart, eingeschult 2019 an der Waldorfschule Uhlandshöhe. Wir müssen eine Kindheit im Wohlstand, in hochstabilen, abgesicherten Sozialsystemen und einer gefestigten Demokratie beschreiben. Die Herausforderungen für die Persönlichkeitsentwicklung sind vollständig andere, als es diejenigen der ersten Biografie waren. Die gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Problemstellungen sind im zweiten Fall eine bedrohte Umwelt, eine extreme Polarisierung der Weltbevölkerung in arm und reich sowie das Entstehen einer Sub- oder Parallelrealität durch digitale Medien. Das geistige Leben der Gegenwart findet seine Herausforderung in Folgendem: Der Wahrheitsbegriff wird in der Wissenschaft durch Verifizieren und Falsifizieren ersetzt. Das sind aber keine echten Urteilsgrößen, sondern Mechanismen. Auch ein entsprechender Algorithmus könnte auf diese Weise das »Nicht-Falsche« ermitteln. Der Begriff des Schönen ist aus der Ästhetik verschwunden. Damit entzieht sich das Kunstwerk der Beurteilbarkeit. Kunst ist völlig beliebig und subjektiv geworden und es gibt eigentlich keinen Kunstbegriff mehr. Und die Ethik versteckt sich hinter der Goldenen Regel – behandle andere so, wie du selber behandelt werden willst – auf der einen und einer gesellschaftlichen Normierung des Ethischen (Ethikrat) auf der anderen Seite. Auch hier wird ein Urteil aus den Ichkräften nicht vollzogen.

Prüfungen der Gegenwart

In der Literatur findet man viele Darstellungen einer bestimmten problematischen Signatur unserer Zeit. In Momo sind es die grauen Herren von der Zeitsparkasse, in Harry Potter die Dementoren, weitere Beispiele ließen sich schnell aufzählen. Die dort beschriebenen Kräfte gibt es, und sie wirken, je mehr wir sie ausgrenzen und aus unserem Bewusstsein ausblenden wollen, desto mehr. Menschen, die in der Gegenwart ihre Persönlichkeitsentwicklung vollziehen, wollen diese Kräfte verstehen und ihnen begegnen. Zur Zeitgenossenschaft gehört, dass man sie in ihrer heutigen digitalen und technischen Erscheinungsform kennt und nicht in derjenigen früherer Jahrzehnte. Zum Erkennen dieser Kräfte gehört insbesondere, dass man die eigenen Intelligenzkräfte an ihnen ausbildet, in ihre Haut schlüpft und sie von innen heraus versteht. Ich bin mir sicher, dass wir unseren Kulturauftrag als pädagogische Bewegung verfehlen, wenn es uns nicht gelingt, unsere Schüler in diesem Sinne auf ihre Zeitgenossenschaft vorzubereiten.

Das Unproduktivste, das man an dieser Stelle tun kann, ist das dauernde Abschirmen vor den Gefahren der jeweiligen Epoche. Hingegen ist es gut und nötig, wenn man die Resilienz- und Lebenskräfte über das Maß des Mitgegebenen hinaus stärkt. Dafür eignet sich die Kunst in besonderem Maße und in diesem Feld insbesondere die Eurythmie, weil sie noch mehr als die anderen Künste die Lebenskräfte stärkt und den ganzen Menschen auch leiblich ergreift. Ferner muss aller Unterricht bildhaft und phantasieanregend gehalten werden und jenes Geistige des Menschen, das unbewusst bleibt, das sich während des Schlafes entfaltet, durch die richtige Methodik seine Wirkungen entfalten können.

Was bedeutet all das für den Lehrplan?

Um den jungen Menschen als Zeitgenossen aus der Schulzeit ins Leben zu entlassen, muss eine Gewichtsverlagerung Richtung Naturwissenschaften und Mathematik vollzogen werden. Diese Anpassung braucht nicht fachspezifisch zu sein. Beispielsweise kann die industrielle Revolution breiter und mit konkreten technischen Beispielen behandelt werden. Ähnliches kann über die Geographie gesagt werden. Darüber hinaus muss überlegt werden, wie in den entsprechenden Fächern selbst nachjustiert werden kann. Insbesondere muss ein Medien- und Informatiklehrplan implementiert werden. Die Kurskorrektur, die durch diese Überlegungen nötig erscheint und die vorzugsweise die Oberstufe betrifft, hat durch Verschiebung auch Auswirkungen auf die Mittelstufe. Insgesamt erfährt der Lehrplan eine Verdichtung und fordert dadurch die Methodik heraus. Er wird unerlässlich sein, stärker symptomatologisch zu unterrichten und die Beispiele noch mehr zu selektieren.

In den 100 Jahren seines Bestehens hat der Lehrplan einige Baustellen bekommen. Dazu zählen z.B. die Sexualkunde oder das Einführen der Schrift mit allen Begleitmaßnahmen.

Die Sexualkunde sollte dringend neu betrachtet werden. Ich kenne keine Diskussion, die das Thema wirklich zeitgemäß für die Mittelstufe behandelt. Die Aufklärung wird im häuslichen Umfeld oft nicht in wünschenswerter Weise vollzogen. Das Thema kommt dann notgedrungen in die Schule, in den Unterricht, und zwar in der Mittelstufe. Es muss explizit und offen aus einer ethischen Perspektive besprochen werden. Das Thema ist in der Hauptsache nicht: »Wie verhüte ich?«, sondern Liebe, Verantwortung und das Wunder des Lebens.

Das Schreibenlernen muss grundständig neu bedacht und gegriffen werden. Es kann nicht befriedigen, dass Kinder ein Jahr lang Großbuchstaben lernen, mit denen sie keinen Text lesen können. Es gibt keine Lesestücke in Großbuchstaben.

Auch den Inhalten des sogenannten Erzählteils im Hauptunterricht des Klassenlehrers (Stichwort: nordisch-germanische Mythologie) sowie des künstlerisch-handwerklichen Unterrichtes dürfte ein naiver, unverstellter Blick mit ebensolchen daraus resultierenden Fragen nicht schaden.

Ein guter Leitstern bei der Suche nach Antworten und Lösungen kann sein: Wie würde eine Waldorfschule aussehen, wenn mit der gleichen Weitsicht, Initiative und Empathie Antworten auf die Not der Zeit in Bildungs- und Gesellschaftsfragen gegeben würden, wie damals von den Gründerpersönlichkeiten? Der ideelle Kern wäre sicherlich sehr ähnlich, das Erscheinungsbild und die Ausgestaltung im Einzelnen eher nicht.

Zum Autor: Stefan Grosse ist Klassen- und Religionslehrer an der FWS Esslingen und Mitglied des Vorstandes des Bundes der Freien Waldorfschulen.