Lehrplan oder Lernplan?

Sven Saar

Woran denken wir, wenn wir »Waldorfschule« hören?

Die ersten Bilder kommen meist aus der Praxis: Hausbauepoche, Klassenspiele, Märchenbilder, Monatsfeiern ... Wie haben sich unsere wertvollen Traditionen eigentlich entwickelt? Lassen sich alle wesentlichen Charakteristiken bis zum ersten Lehrerkurs zurückverfolgen? Nicht ganz: Am fünfzehnten Tag – einen Tag vor der Eröffnung der Schule – gab Steiner zweieinhalb sogenannte »Lehrplanvorträge«, in denen er nach Fachgebieten zusammenfasste, was in den vorangehenden Tagen besprochen worden war. Darin beschrieb er die Details als »Musterbeispiele« für das, »was Sie aus eigener Erfindung heraus sich gestalten müssen«. In der historischen Entwicklung ist es so, dass wir Waldorflehrer viel (zu viel?) voneinander abgeschaut haben. In der dritten Klasse »macht man« Schöpfungsgeschichte, in der vierten Tierkunde, in der achten Anatomie und so weiter. Verstehen wir in jedem Jahr neu, was die Entwicklungsaufgaben des Kindes sind und warum wir bestimmte Fächer unterrichten? Das Wort »Lehrplan« entstammt einer überholten Perspektive: Im traditionellen Bild der Pädagogik stehen da Lehrer und vermitteln Wissen, und vor ihnen sitzen Kinder, die – je nach Veranlagung – in der Lage sind, viel oder wenig aufzunehmen. So ist man »gut« oder »schlecht« in der Schule, weil man es mehr oder weniger versteht, den Anforderungen des Lehrplanes zu genügen. Steht bei diesem Bild das Kind im Mittelpunkt? Vielleicht hat auch in Waldorfschulen so mancher Lehrer immer noch »morgens recht und mittags frei«, statt sich als Lernpartner seiner Schüler zu verstehen.

Gehen wir stattdessen von einem »Lernplan« aus, so fragen wir fortlaufend: Was braucht das Kind an einem gewissen Punkt seiner Entwicklung? Da finden wir auch in der Waldorftradition viel Förderliches. Zum Beispiel sind die Aktivitäten der dritten Klasse – Bauen, Backen, Handwerk, Landwirtschaft, Messen und Wiegen – hervorragend geeignet, dem Kind Sicherheit zu vermitteln, wenn es sich entwicklungsbedingt in einer Identitätskrise befindet. Aber muss das – wie von Jakob Streit genial vorgemacht und weithin imitiert – in die Bildersprache des Alten Testaments gekleidet werden? An dieser Stelle sind wir alle aufgerufen, kreativ zu werden und den Lernplan so zu gestalten, dass er auf drei Ebenen Sinn macht: Er soll die Entwicklungsaufgaben des Kindes gesundend unterstützen, sich in die örtlichen und kulturellen Gegebenheiten eingliedern und sich authentisch an den Bedürfnissen der individuellen Kinder orientieren. Das ist »Curriculum«: alles, was im lernenden Erleben des Kindes passiert. Ein ganzes Jahrhundert an Weisheit ist im aktuellen Waldorflehrplan enthalten: gute Ideen, tiefe Einsichten und inspirierende Erkenntnisse. Suchte man nur seine Inhalte, bliebe man an der Oberfläche. So sehen das auch die forschenden Menschen, die ihn immer neu bewegen und impulsieren. Vier Jahre nach der Schulgründung sagte Steiner im englischen Ilkley: »Es ist unser ganzer Lehrplan nur etwas dem Geiste nach Bestimmtes.« Am Anfang und am Ende unserer Bestrebungen steht nicht die Erziehungskunst, sondern das lernende Kind, dem sie dient.