Das Medium ist die Botschaft

Edwin Hübner

Jedes Medium gibt eine bestimmte Form vor, wie wir mit ihm umzugehen haben. Und diese Form prägt uns – unabhängig vom Inhalt. Das gilt für alle Technik. Das Auto erlaubt nur bestimmte Bewegungsabläufe, wenn man sich unfallfrei bewegen will, die Spülmaschine erfordert beim Einsortieren des Geschirrs an sie angepasste Handbewegungen, beim Blick auf einen Bildschirm sollte man still sitzen und nicht gleichzeitig joggen oder Auto fahren.

Die Botschaft des Mediums

Alle Medien – seien es Schriften, Bilder, Filme oder Töne – heben die Kohärenz der Sinne auf. Der Mensch erlebt nur mit einem oder zwei Sinnen die durch den medialen Raum vermittelten Inhalte. Er wird als Sinneswesen gespalten: Mit Augen und Ohren hält er sich in der medialen Welt auf, während der übrige Leib nach wie vor im realen Raum verbleibt. Er befindet sich mit seinem Bewusstsein im Virtuellen, lebt aber im Realen. Das führt dazu, dass der Leib weitgehend stillgestellt ist. Unser verleiblichtes Wesen wird zum körperlosen Geist, der in ein virtuelles Geisterland eintritt. Überspitzt kann man sagen: Alle Medien – das gilt auch schon für das Buch – vermitteln eine Botschaft, die den eigenen Leib vergessen macht: Lass’ ihn im Sessel liegen und komm mit in meine Welt. Für Erwachsene muss das kein Problem darstellen. Für Kinder aber, die sich erst die räumlich-zeitlichen Verhältnisse des Leibes einverleiben müssen, ist die Flucht in die Welt des Bildschirms ungesund; sie behindert die Leibwerdung.

Entwicklungsschritte

In den ersten Lebensjahren des Kindes steht die Reifung und Beherrschung des eigenen Leibes im Vordergrund. Das Kind muss seine Grob- und Feinmotorik beherrschen lernen, seine Sprache entwickeln und ein fantasievolles Denken ausbilden. Vor allem braucht es aber vielfältige Anregungen, um die Sensomotorik allseitig auszubilden, denn nur durch sie kann es die Vielfalt der Welt wahrnehmen und geschickt in ihr handeln.

Mit dem Übergang zur Schulzeit erweitern sich die motorischen Fähigkeiten des Leibes. Das Kind lernt, einfache Werkzeuge zu gebrauchen und ein Musikinstrument zu spielen. Es erübt sich die Fähigkeit, auf dem Rollbrett zu balancieren und mit dem Fahrrad zu fahren. Es lernt Schwimmen, Klettern, aber auch Kulturtechniken wie Rechnen. Vor allem aber lernen die Kinder das erste große Medium der Menschheit beherrschen: die Handschrift.

Ihre zunehmende Bemeisterung der Welt wird durch den Unterricht in Fremdsprachen unterstützt. Ihr Blick auf die räumliche Umgebung wird mit der Heimatkunde und dem stetig größere Kreise ziehenden Geografieunterricht auf die ganze Welt erweitert. Durch die vielen Unterrichtsfächer eignen sie sich immer mehr Kulturinhalte der Menschheit an, die sie brauchen, um die Welt zu verstehen und in ihr sinnvoll handeln zu können.

Ein wesentlicher Entwicklungsschritt geschieht während der Pubertät. Der Jugendliche löst sich seelisch aus seinem bisherigen Umfeld heraus und sucht zugleich seine eigene Verwurzelung in der Welt. Daraus ergeben sich für ihn mehrere Entwicklungsaufgaben. Durch die seelische Emanzipation wird er sich seines Einzelseins bewusst. Das führt ihn zur mehr oder weniger bewussten existenziellen Frage nach seinem Selbst. Er muss seine eigene Persönlichkeit finden und entwickeln. Damit ist eine zweite Frage verbunden, nämlich die nach den sozialen Beziehungen, dem Verhältnis zur Peergroup. Diese Frage wandelt sich in der späteren Jugendzeit zu dem Problem, wie er in der bestehenden Gesellschaft seinen »Ort« findet, an dem er das Leben mitgestalten kann. Die gesunde Ausbildung des eigenen Leibes, die Befähigung zur Empathie, zur Initiative, zum Interesse an Mensch und Welt sowie eine gute Allgemeinbildung werden damit zu Grundaufgaben der jugendlichen Entwicklung.

Pädagogische Herausforderungen

Seit mehr als zehn Jahren häufen sich die Feststellungen, dass junge Menschen, wenn sie an die Hochschulen kommen oder ihr Arbeitsleben beginnen, den Anforderungen immer weniger gewachsen sind. Eine interne Umfrage unter den philosophischen Fakultäten in Deutschland, deren Fazit 2012 bekannt wurde, erbrachte unter anderem eine verbreitete mangelnde Fähigkeit der Studierenden, längere Gedankengänge zutreffend zu beschreiben bzw. Texte auf einem höheren Abstraktionsniveau zusammenzufassen.1 Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin beschrieb 2018 eine analoge Beobachtung unter der Überschrift: »Da läuft etwas ganz schief«.2 Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Gerald Lembke fasste 2019 seine Erfahrungen, die er in Wirtschaftsbetrieben und in Hochschulen machte, in der Feststellung zusammen, dass wir das Potenzial der jungen Generation verspielen.3 Die Beobachtungen lassen sich auf drei Ebenen zusammenfassen:

  • Vielen jungen Menschen fällt es schwer, von der konkreten Wahrnehmungs- und Handlungsebene abzusehen und das Erlebte von einem höheren Abstraktionsniveau aus zu betrachten. Ein kreatives, konzentriertes, kritisches Denken fällt ihnen schwer.
  • Persönliche soziale Fähigkeiten wie Empathie, das Vermögen, ein gelingendes, einfühlsames, konstruktives Gespräch zu führen oder elementare Umgangsformen sind bei vielen jungen Erwachsenen zu wenig entwickelt.
  • Zudem stellte Lembke fest, dass »fehlende Selbstwirksamkeitserfahrungen eines der prägendsten Defizite der jungen Menschen heute« sind (Lembke 2019, S. 57).

Das Aufwachsen im digitalen Alltag erschwert es Kindern und Jugendlichen anscheinend, sich im Lauf ihrer Entwicklung zentrale persönliche und soziale Fähigkeiten zu erwerben. Deshalb muss der Fokus alles Erziehens und Lehrens neu ausgerichtet werden, indem zuallererst auf die leiblich-seelische Entwicklung geblickt wird und nicht auf die sogenannte »Medienkompetenz«.

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert wird über Medienkompetenz diskutiert. Es gab die Initiative »Schulen ans Netz« Ende der 1990er Jahre, es wurden schon damals weltweit die Schulen mit Computern und Laptops ausgestattet, zahllose Initiativen sollten zeigen, dass sich durch die Nutzung der Geräte das Lernen verbessert. Es wurde gar von der »Revolution des Lernens« gesprochen. Die Realität ist, dass diese weitverbreiteten Hoffnungen sich nicht erfüllt haben – im Gegenteil.

Man hat den »Faktor Mensch« vergessen. Der junge Mensch muss erst in sich selbst seelisch-geistig gefestigt sein, denn nur aus dieser Festigung heraus ist er den Anforderungen und Versuchungen der Geräte gewachsen. Beim Autofahren ist dies selbstverständlich. Beim Umgang mit Informationstechnologien müssen wir das noch lernen.

Erst real, dann analog, zuletzt digital

Alle Pädagogik muss entwicklungsorientiert sein. Die naturgemäßen Entwicklungsschritte der Kindheit gilt es zu unterstützen und zu fördern, da sie die Basis sind, auf der überhaupt eine Medienmündigkeit aufbauen kann. Die Entwicklungsorientierung kann man in drei kurzen Sätzen zusammenfassen:

  • Das neugeborene Kind muss sich erst in die reale, mit allen Sinnen erfahrbare Welt einleben, indem es den eigenen Leib entwickelt. Das kann nur in der Auseinandersetzung mit realen, nicht virtuellen Erlebnissen geschehen und das braucht seine Zeit.
  • Wenn das Kind allmählich in die Schulzeit hineinwächst, dann ist es wichtig, dass es vor allem analoge Techniken beherrschen lernt: Schwimmen, Umgang mit Werkzeugen, mit Musikinstrumenten, mit Fahrrädern usw., vor allem aber das Schreiben mit der Hand.
  • Mit dem 12. Lebensjahr etwa, wenn das Kind in die Pubertät kommt, ist es aufgrund seiner leiblichen Entwicklung – vor allem seiner Gehirnentwicklung – fähig, die logisch-kausalen Grundprinzipien der Funktionsweise digitaler Technologien zu verstehen; dann kann es auch allmählich lernen, sie sinnvoll anzuwenden. Aber das ist ein langer Weg.

Eine an der Entwicklung des Kindes orientierte Pädagogik unterstützt die Ausbildung einer starken Persönlichkeit. Die Coronakrise zeigt deutlich: Jugendliche, die eine starke Persönlichkeit haben, die selbstständig arbeiten können und deren familiärer Hintergrund ihnen Unterstützung gibt, bewältigen die Herausforderungen dieser Zeit und machen trotz allem schulische Lernfortschritte. Eine Reihe von Jugendlichen, die nicht über diese Basis verfügt, kommt mit den Anforderungen nicht zurecht.

Auf die Botschaft der Medien antworten

Der Autor Howard Rheingold charakterisierte sehr prägnant, welche Fähigkeiten im digitalen Alltag gebraucht werden: »Digitale Medien und Netzwerke können nur diejenigen Menschen ermächtigen, die sie nutzen lernen – und stellen Gefahren für jene dar, die nicht wissen, was sie eigentlich tun. Gewiss ist es leicht, in Ablenkungen abzudriften, ein Opfer von Fehlinformationen zu werden, die Aufmerksamkeit aufspalten zu lassen, anstatt sie zu konzentrieren. Aber diese geistigen Versuchungen stellen nur für den ungeschulten Geist Gefahren dar. Die geistige Disziplin zu lernen, Denkwerkzeuge zu gebrauchen, ohne die Konzentration zu verlieren, ist ein Preis, den ich gerne zu zahlen bereit bin, um das zu gewinnen, was das Web anzubieten hat.«4 Rheingold wies darauf hin, dass digitale Medien und Netzwerke nur von denjenigen sinnvoll genutzt werden können, die bestimmte seelische Fähigkeiten erworben haben:

  • Geistige Disziplin, die es erlaubt, Denkwerkzeuge zu gebrauchen, ohne die Konzentration zu verlieren;
  • eine gute Allgemeinbildung, die es ermöglicht, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, das heißt, Informationen auf ihre sachliche Richtigkeit hin zu überprüfen;
  • die Fähigkeit, sich für etwas aktiv einzusetzen, anstatt nur passiv zu konsumieren;
  • schließlich, dass man weiß, wie man in einer zunehmend aufdringlicher werdenden digitalen Umwelt die Privatsphäre schützt.

Aufmerksamkeit, Konzentration und Disziplin – das kann in allen Unterrichten, vor allem aber in den handwerklich-praktischen und künstlerischen Fächern geübt werden; aber auch zuhause, indem beispielsweise Eltern dafür Sorge tragen, dass Kinder ihre Hausaufgaben ungestört und in Ruhe erledigen können, dass im Kinderzimmer Bildschirmmedien nicht unkontrolliert zur Verfügung stehen; wenn Kinder Medienangebote nicht nebenher konsumieren, sondern sich ihnen bewusst zuwenden. In einer Zeit, in der die Geräte durch Künstliche Intelligenz immer selbstständiger agieren, müssen Elternhaus und Schule ausgleichend zur Selbstständigkeit anregen. Es gibt doch im Alltag viele Gelegenheiten, wo Schulkinder eine ihrem Entwicklungsstand angemessene Verantwortung übernehmen können – man kann und muss ihnen das auch zumuten!

Der Medienpädagoge Christian Doelker (1934-2020) bemerkte einmal, Marshall McLuhan würde seinen berühmten Slogan heute anders formulieren: »Das Medium ist die Aggression«. Zu McLuhans Lebzeiten musste man sich die Medienangebote noch holen, heute drängen sie sich dem Menschen von allen Seiten auf. Doelker fragte daher, »ob [...] so etwas wie eine Mediation zwischen Medien und Meditation angestrebt werden könnte, eine Verbindung von Kultur der Hektik und einer Kultur der Nachdenklichkeit«.5

Auch dies gehört zur Antwort auf die aggressive Botschaft des Mediums, dass der Mensch lernt, sich Augenblicke im Leben zu verschaffen, in denen er aus seinem Eingebundensein in den Alltag heraustritt und sich einer stillen, selbst gewählten Aktivität zuwendet. Auch das würde Kindern in ihrer Entwicklung sehr helfen, wenn sie an uns Erwachsenen vorbildhaft erleben könnten, wie man inmitten des turbulenten Lebens eine Kultur der Stille pflegen kann.

Anmerkungen:

1 T. Pany (2012): Studierende mit alarmierenden Lese- und Schreibschwächen. In: Telepolis, 24. Juli 2012. Online: t1p.de/0jz3, Zugriff: 27.06.2021

2 V. Ladenthin (2018): Da läuft etwas ganz schief. In: Forschung & Lehre, online: t1p.de/qbdq, Zugriff: 27.06.2021

3 G. Lembke (2019): Verzockte Zukunft. Wie wir das Potential der jungen Generation verspielen. Weinheim, Basel.

4 R. Howard: Aufmerksamkeit, Erkennen von Unsinn und Netz-Bewusstsein. In: John Brockman (2011): Wie hat das Internet ihr Denken verändert? Die führenden Köpfe unserer Zeit über das digitale Dasein. Frankfurt am Main: S. 202 ff.

5 Chr. Doelker (2005): Medien als Umwelt. Environmental turn der Medienpädagogik. In: Hubert Kleber Hrsg.): Perspektiven der Medienpädagogik in Wissenschaft und Bildungspraxis. München: S. 15-21.

Zum Autor: Dr. Edwin Hübner ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart und Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.