Leise Gewalt

Henning Köhler

Im großen historischen Überblick gilt, dass noch nie so wenig Gewalt gegen Kinder ausgeübt wurde wie heute. Daran muss gelegentlich erinnert werden, um falscher Nostalgie einen Riegel vorzuschieben. Legt man jedoch kleinere Intervalle zugrunde, ist Sorge angebracht. Seit rund 20 Jahren verschlechtert sich die Lage der Kinder kontinuierlich. In vielerlei Hinsicht. Dass die Hemmschwelle zur Kindesmisshandlung sinkt, korrespondiert mit einem latent kinderfeindlichen gesellschaftlichen Klima, dessen Aus­wirkungen sich nicht auf offene Brutalität beschränken. Zum Beispiel stürzt schulischer Druck immer mehr Kinder und Jugendliche in ernste psychische Krisen – definitiv eine Form der Misshandlung.

Thomas Steinfeld hat jüngst einen, mit Verlaub, erbärm­lichen Artikel über das 1901 von Ellen Sofia Key ausgerufene »Jahrhundert des Kindes« geschrieben (Süddeutsche Zeitung, 16.8.2014). Kernaussage: Der Traum einer ganz auf Freiheit und Liebe gegründeten Pädagogik sei nicht mehr zeitgemäß. Solche Statements passen ins Bild. Viele Intellektuelle haben sich mit dem allgemeinen Utopie-Bankrott ausgesöhnt, feiern ihn sogar, und dabei ist auch die Utopie einer wahrhaft kinderfreundlichen Gesellschaft flöten gegangen. Bücher zu Erziehungsfragen, in denen »die heutigen Kinder« eiskalt abgekanzelt werden, erreichen nicht zufällig Millionenauflagen. Das hängt alles zusammen. Ein weiteres untrügliches Zeichen für verdeckte Kinderfeindlichkeit ist der massenhafte Einsatz von Psychopharmaka zur Bekämpfung sogenannter Verhaltensauffälligkeiten. Kinder, die als schwierig gelten, werden besonders häufig verdroschen. Da scheint sich der »psychopharmakologische Rohrstock« als vergleichsweise humane Lösung anzubieten.

Wer von Kindesmisshandlung spricht, muss auch von der wachsenden Armut im enthemmten Kapitalismus sprechen. Diese Entwicklung gutzuheißen und zugleich Gewalt gegen Kinder zu beklagen, ist verlogen. Armut erhöht zwar im individuellen Einzelfall nicht zwingend die Gewaltneigung, doch soziologisch gesehen ist der Zusammenhang unbestreitbar. Natürlich gibt es auch andere, nicht an ein bestimmtes Milieu gebundene Risikofaktoren, wie zerrüttete Familienverhältnisse, psychische Erkrankungen der Eltern oder die berühmte Kettenreaktion: Eigene Gewalterfahrungen werden an die Kinder weitergegeben. Und noch einmal muss erwähnt werden: Druck seitens der Schule entlädt sich immer häufiger in häuslicher Gewalt.

Erinnert sei zuletzt an dies: Gewalttätige Gedanken erzeugen entsprechende Haltungen, schließlich Taten. Phantasieloses, plumpes Denken in Kategorien des Unter-Druck- Setzens, der »Sanktionen« und Drohgebärden ist auf allen Ebenen wieder stark auf dem Vormarsch. Die Kinder sind Leidtragende eines allgemeinen, bedrohlichen Trends. Jeder prüfe sich selbst.