Lernen zwischen Individualität und Gemeinschaft

Barbara Blaeser

Ein möglicher Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Verständnis des »Lernens«.

Lernen ist gesteigertes Leben und verläuft wie dieses in sieben Phasen: Atmung, Wärmung, Ernährung, Sonderung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion. Mit der Schulreife werden die zuvor im Leib des Kindes tätigen Lebenskräfte frei und stehen ihm nach und nach als Gedächtnis, Phantasie und Vorstellungskraft zur Verfügung.

Atmung wird Wahrnehmung: In der ersten Phase »atmet« das Kind über seine Sinne die es umgebende Welt ein. Es durchdringt unbewusst die äußere Erscheinung und kommt zu einer inneren Wesensbegegnung. Junge Kinder entwickeln oft lange kein Bewusstsein für die Begabungen und Behinderungen ihrer Mitschüler. Aber sie nehmen das Wesen des anderen wahr.

Wärmung wird Bejahung: Das Kind gibt sich seelisch einem neuen Eindruck hin und erwärmt sich für ihn. Diese zweite Phase ist die hohe Zeit der Waldorfpädagogik. Hier haben die künstlerischen, das Gefühl der Kinder ansprechenden, heiteren und ernsten Qualitäten ihren Platz. Es ist nicht der Inhalt einer Geschichte, der im Kind eine Bejahung auslöst, sondern die Stimmung, die durch sie und den Erzähler erzeugt wird.

Ernährung wird Analyse: Während auf der ersten und zweiten Stufe die verschiedenen Begabungen und Behinderungen der Kinder noch kaum eine Rolle spielen, muss auf der dritten jedes Kind sich individuell – den eigenen Möglichkeiten und Einschränkungen gemäß – mit dem Stoff auseinandersetzen. Es muss das Neue wie eine Speise »verdauen«.

Sonderung wird zu Individualisierung: Das Kind erfasst imaginativ den geistigen Gehalt des Lernstoffs. Es weiß zum Beispiel, wie ein rezitierter fremdsprachlicher Text »richtig« klingt und erfasst das Wesen der fremden Sprache, noch bevor es sie selbst sprechen kann.

Erhaltung wird zum Üben: Wenn das Kind eine Fähigkeit übt, dann unterscheidet es bereits, wann das, was es tut, stimmt und wann nicht. Die Imagination des »Richtigen« hat es schon in der vorigen Phase gewonnen. Trotzdem ist der Weg noch weit, bis es sich die Fähigkeit wirklich »einverleibt« hat. Deshalb übt das Kind immer nur das, was es schon erfasst hat und füllt auf diese Weise die gewonnene Imagination mit seiner wachsenden Fähigkeit aus.

Wachstum wird zur Begriffsbildung: Wie von Zauberhand kommt das Sprechen der Kinder in Fluss und eine Sicherheit entsteht, die weit entfernt ist von den ersten zaghaften Versuchen des Nachsprechens. Unverkennbar: Die Kinder sprechen Russisch! Kein Stocken, kein bewusstes Ausformen irgendwelcher Lautverbindungen – der Sprechimpuls erfasst die Sprechorgane und fließt durch sie hindurch. Was wir nun hören ist Sprache! Ebenso wie beim Erlernen der Fremdsprache die Sprache selbst sich im Sprecher auszusprechen beginnt, beginnt auch auf anderen Lernfeldern der Stoff oder die Fähigkeit, sich selbst auszusprechen. Jeder von uns trägt Begriffe wie »Zeit« oder »Licht« in sich. Wir entwickeln Weltanschauungen und moralische Haltungen, die uns irgendwann im Verlauf unserer Entwicklung »in Besitz genommen haben«. Sie alle wurden auf einer solchen sechsten Lernstufe errungen, und ihre Lebendigkeit und Tiefe hängen davon ab, wie reich und vielfältig die vorangegangenen Lernphasen gestaltet waren.

Reproduktion wird gegenseitige Anregung: In der siebten und letzten Phase verschmelzen die verschiedenen Stufen und der individuelle Lernprozess des einen Kindes wird zum Wahrnehmungsgegenstand des anderen.

Die Betrachtung der sieben Phasen zeigt, dass gesundes Lernen immer ein Atmungsprozess ist, der sich zwischen peripherem Wahrnehmen, Handeln in der Gemeinschaft und dem Rückzug auf sich selbst und den Stoff abspielt. Kinder brauchen die Wahrnehmung vielfältig begabter Menschen, an denen sie den Reichtum möglicher Empfindungen und Gefühle ausbilden können. Und sie brauchen Räume, in denen sie sich individuell, ihrem Tempo und ihren Begabungen und Behinderungen gemäß mit einem Inhalt auseinandersetzen dürfen.

Lernen ist also mehr als differenzierte, ganz auf das einzelne Kind zugeschnittene Aufgabenstellung. Mehr aber auch als chorisches Üben und einheitliche Epochenhefte. Es ist eine vielschichtige Erfahrung, die zwischen dem Eintauchen in die Gemeinschaft (beim Geschichten hören und Singen, bei wilden Spielen und beim träumenden Beobachten der anderen Kinder) und der energischen Auseinandersetzung mit einer Aufgabe hin und herschwingt.

Welche Fähigkeiten brauchen Lehrer und Lehrerinnen?

Eine entsprechende Fortbildung muss unsere Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit auf allen sieben Stufen des Lernens und Lehrens schulen. Sie kann uns dabei unterstützen, dem Organismus einer Klasse über die Peripherie durch Rituale und Gewohnheiten Stützkraft und Durchlässigkeit zu geben, damit auch eine größere Kindergemeinschaft und ein buntes Schulleben den empfindlichen Kindern keine Angst machen.

Wie können wir unsere Sprache und unsere Erzählkraft so verdichten, dass wir mit unseren Darstellungen auch Kinder unterschiedlicher Begabungsprofile zum Lachen und zum Weinen bringen? Und wie schulen wir unsere Phantasie so, dass es uns mehr und mehr gelingt, aus dem Gemeinsamen heraus dem einzelnen Kind im rechten Moment seine Aufgabe zu stellen?

Vor allem müssen wir Vertrauen darauf entwickeln, dass jeder Lernprozess eines Kindes sich in den anderen reproduziert. Kinder lernen, indem sie ihre seelische Entwicklung gegenseitig mitvollziehen. Die Errungenschaften des einen Kindes können so zur Errungenschaft aller werden.

Die Heilpädagogik kann uns lehren, unsere Aufgaben methodisch so zu gestalten, dass Kinder sehr unterschiedlicher Konstitutionen Zugänge zu den Inhalten gewinnen. Sie schult uns, die Entwicklungsgebärden der einzelnen Kinder zu erkennen und durch die Gestaltung der Inhalte gezielt Entwicklungen anzuregen. In der Heilpädagogik sind wir auch daran gewöhnt, die Stimmungen und Gefühle kraftvoll und üppig auszuprägen, und wir leben selbstverständlich damit, dass jedes Lernen seine individuellen Entwicklungsverläufe braucht. Diese Fähigkeiten können in der Inklusion allen Kindern zugute kommen.

Doch zum kindlichen Lernen gehört auch das Eintauchen in die große Kindergruppe. Nicht allein im direkten Kontakt mit dem Lehrer lernen Kinder, sondern auch durch das Zusammenwirken mit Kindern anderer Begabungsprofile.

Welche Schulgestalt sich im Einzelnen aus den skizzierten Gesetzmäßigkeiten ergibt, hängt natürlich von der konkreten Menschengemeinschaft und ihrem Standort ab. Hier muss jede Schule, die sich auf den Weg zur Inklusion macht, ihre eigene Lösung finden. Sicher ist es häufig die dritte Lernphase, die Phase der individuellen Auseinandersetzung des Kindes mit dem Lernstoff, in der wir neue Methoden brauchen, denn diese Phase verlangt nach unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlichen sozialen Konstellationen innerhalb einer Klasse. Um diese zu ermöglichen, bedarf es der Eingriffe in Stundenpläne und Lebensräume.

Durch die Waldorfpädagogik haben wir aber auch viele pädagogische Handwerkszeuge längst in der Hand. Ich bin überzeugt davon, dass Waldorf- und anthroposophische Heilpädagogik sich gemeinsam zu einer Pädagogik weiterentwickeln lassen, in der Vielfalt als inspirierender und beglückender Reichtum empfunden werden kann.

Bärbel Blaeser ist Klassenlehrerin der 5./6. Klasse an der Windrather Talschule, einer inklusiven Waldorfschule in Velbert-Langenberg.