Lernt fragen

Wolfgang Held

Auf dem Lehrerpult ist aus Spiegeln, Projektoren und Pappscheiben ein Versuch zur Optik aufgebaut. Daneben steht Thomas Neukirchner, mit geneigtem Kopf und den Fingern nachdenklich an den Lippen. Zigtausendmal haben die Jugendlichen einen Spiegel und sich im Spiegel gesehen, doch nun wird dies allzu selbstverständliche Phänomen zum Rätsel. Neukirchners Blick wechselt vom Versuch zu den Schülern und wieder zurück. Er schaut, als würde er zum ersten Mal ein Spiegelbild sehen und doch spüren die Schülerinnen und Schüler, dass er sein Metier beherrscht. Er formuliert nur halbe Sätze, unterbricht sich, weil das Beobachten und das Nachdenken zählt und nicht sein Vortrag. Er erinnert mich an den Schauspieler Peter Falk, der mit der Figur des Columbo einem solch suchenden nachsinnenden Charakter weltweit in die Wohnzimmer brachte.

Oft hält Neukirchner nach ein paar Worten inne. Ja, er ist der Entdecker und das steckt die Schüler an. Sobald ein Schüler etwas sagt, stellt Neukirchner sein Anliegen sofort zurück und wiederholt, was er gehört hat. Egal, wie umständlich oder langsam jemand formuliert, Neukirchner verliert nie die Geduld. Das gibt den Schülerinnen und Schülern das Gefühl, ernst genommen zu werden. Ich glaube, ich habe in diesem Sinne noch nie einen so radikal gewaltfreien Unterricht erlebt, wie hier im Physikunterricht von Thomas Neukirchner. Den Morgenspruch sprechen die Jugendlichen im Sitzen. Denn das sei ein emphatischer Appell an sich selbst, da wolle er nicht eine besondere Haltung vorgeben, erklärt er mir. Ein Schüler kommt zu spät und lässt sich kommentarlos auf seinen Platz fallen. Auch hier keine Ermahnung, kein Schnaufen oder Augenrollen, sondern nur ein unmerkliches freundliches Nicken. »Ich kann nachempfinden, dass es schlechte Tage gibt, das ist bei uns Erwachsenen nicht anders.« Diese Großzügigkeit oder Großherzigkeit von Neukirchner ist kein »Laissez faire«, bedeutet nicht Unverbindlichkeit. Vielmehr ist er auf diese freie Atmosphäre angewiesen, um einen Raum zu erzeugen, in dem die Schüler lernen, ihre eigenen Fragen zu stellen. »Jetzt, am Ende der Schulzeit kommt es darauf an, dass die Schüler ihren Fragen zuhören, nicht meinen. Dass die Schüler erleben, wie rätselvoll die physikalischen Erscheinungen sind, dafür kann Neukirchner in nachdenklichen Gebärden verharren, die Augen schließen, damit das Beobachtete innerlich noch einmal aufleuchten kann. Mit einem ganzen Register an Körpersprache ruft er lautlos zum Beobachten und Verstehenwollen der Naturphänomene auf. »Auf diesen Augenblick kommt es mir an, wo mir etwas zur Frage wird«, betont er nach dem Unterricht im Physikvorbereitungsraum.

Am nächsten Tag geht es um die Parallaxe, um das räumliche Sehen. Erst zeichnen die Schüler das, was sie mit dem linken und rechten Auge sehen als zwei getrennte Bilder. Manche zeichnen alleine, andere zu zweit oder zu dritt. Dann geht es um die scheinbare Verschiebung der Dinge, wenn man an ihnen vorbeiwandert. Während beim wechselnden Blick mit linkem und rechtem Auge die Perspektive springt, wandert sie in der eigenen Bewegung kontinuierlich. »Warum verschieben sich die Dinge, die weiter weg sind, weniger stark als die näher liegenden?«, fragt eine Schülerin und Neukirchner: »Lass das Warum mal weg.« Der Verstand will die Ursache, will den Grund kennen, verliert damit aber die Beziehung zum beobachtenden Gegenstand. Diese Verbindung zur Erscheinung will Neukirchner aufrechterhalten. Indem sie zuerst nach dem »Wie« fragen lernen, sind sie intellektuell engagiert und bleiben doch nahe am Phänomen.

Dann schauen die Jugendlichen durch große Sammellinsen auf ein Bild und sollen sich nun wiederum bewegen. Da: Das Bild geht mit, »als wär es unendlich«, ergänzt eine Schülerin. Dann lässt Neukirchner Schüler aus verschiedener Distanz auf ein Bild mit einer festen Linse schauen. Erst probieren, dann dokumentieren. Wieder fragt jemand: »Das Bild dreht sich um, wenn ich weiter weggehe – warum?« Von Neukirchner kommt nur ein »Mmh«. »Weil die Welt magisch ist!«, antwortet ihr Sitznachbar. Eine andere Schülerin: »Was muss ich sehen?« Neukirchner: »Was können Sie sehen?« 

Am dritten Tag entdecke ich zwei Bewegungen, die Thomas Neukirchner immer wieder macht. Erst spielt er, er wandert mit seinen Schülern um ein Phänomen und wartet, dass dabei Fragen entstehen. Dann zurück zum Phänomen. Das Pendel schlägt mal auf die praktische, dann auf die ideelle Seite. Als es um die Linse geht, bringt er eine dünne durchsichtige Plastikscheibe mit, die wie eine Linse vergrößert. Es ist eine Linse, die in einzelne Stücke zergliedert ist und deshalb flach sein kann. Tageslichtprojektoren haben solche Scheiben. Es geht in philosophische Bereiche, die Klasse diskutiert, was eigentlich real, was »Wirklichkeit« bedeute.

Man spürt, dass sich der Physiklehrer auch darüber schon viele Gedanken gemacht hat, aber er bleibt meist stumm und wartet, bis Fragen und Einsichten von den Schülerbänken kommen. Was ihn am Unterricht denn am meisten freue, frage ich ihn. »Wenn sie eine Brücke zu ihrem eigenen Leben schlagen. Das erlebe ich als Geschenk.«

Und auf die Frage, wie er den Unterricht gerne weiter­entwickeln möchte: »Im Kreis sitzen, das wäre was – und dass kein Lehrplan, kein Curriculum drängt, sondern wir innehalten können, weil die Klasse es will.«