Lesen im Buch der Natur. Der Phänomenalismus

Mario Betti

Die Seele atmet tief auf und weitet sich – hat sie Flügel bekommen? – und, mehr oder weniger bewusst, sucht sie vielleicht ihre Heimat, die »Gefilde hoher Ahnen«, wie Goethe seinen Faust ausrufen lässt. Wir können jetzt für einige Augenblicke den Straßenlärm vergessen und dafür etwas von der Stille an uns herankommen lassen. Wir fühlen, dass uns das All viel offenbaren könnte, hätten wir das Ohr und die Augen der Tiefe. Wir stellen vielleicht eine Frage an den plötzlich so nahen Himmel: Das Staunen hat Fragen erzeugt, Fragen führen zu Antworten und Antworten vermitteln uns ein Stück Welt- und Selbsterkenntnis. In diesem Augenblick ist ein klassischer Philosoph in uns geboren, denn, so lehrten bereits Platon und Aristoteles, das Staunen vor den Welträtseln ist der Urtrieb aller Philosophie.

Da staunt der Phänomenalist

Oder gehen wir bei Tage in einen Wald. Steine, Gräser, Bäume, Tiere, Wolken schauen uns stumm an. Sie sind aber nur deshalb stumm, weil wir meinen, sie bereits zu kennen. Dabei bin ich oft nur Knecht meiner Sehgewohnheiten und meiner Vorurteile. Deshalb staunen wir nicht mehr. Versenke ich mich dagegen mit innerer Teilnahme, ja Anteilnahme, in ihre Formen, Bewegungen und ihr Verhalten, so fange ich an, im Buch der Natur zu lesen und sie hebt langsam ihren Schleier. Wird diese Haltung wissenschaftliche Methode, dann bin ich ein Wissenschaftler, der im Geiste des Phänomenalismus forscht.

»Die Wahrheiten der organischen Natur sind von liebenswürdiger und ehrfurchtgebietender Schönheit, und sie werden immer schöner, je tiefer man in ihre Einzelheiten und Besonderheiten eindringt. Es ist unsinnig zu meinen, die Sachlichkeit der Forschung, das Wissen, die Kenntnis der natürlichen Zusammenhänge schmälerten die Freuden am Wunderbaren der Natur. Im Gegenteil: Der Mensch wird umso tiefer und nachhaltiger von der lebendigen Wirklichkeit bewegt werden, je mehr er über sie weiß«, schrieb der Verhaltensforscher Konrad Lorenz.

In der Erscheinung die Idee entdecken

Lorenz hatte zwar in seiner Forschung auch andere Ansätze, aber hier war er Phänomenalist, das heißt, dass er sich in seiner Forschung weitgehend vom reinen Anschauen oder Hören der Naturerscheinungen – der Phänomene – leiten ließ. Mit dieser Gesinnung schlug er eine Brücke zum eigentlichen Urheber des Phänomenalismus in der Neuzeit, zu Goethe, der als strenger, empirischer Beobachter der Naturvorgänge diesen Forschungsansatz zu wissenschaftlicher Relevanz erhob. Es ist ein ganz anderer Empirismus als beispielsweise der materialistische Pragmatismus von Francis Bacon (1561-1626), dem großen Gesetzgeber neuzeitlicher Wissenschaft. Denn Goethe sah in der Natur nicht nur und ausschließlich »Materielles«, sondern in ihr nahm er eine Offenbarung der sonst verborgenen Ideen wahr, die überall den Sinnendingen als »Informationen« zugrunde liegen. In der Entdeckung der »Urpflanze« kommt diese Seite Goetheschen Schaffens besonders rein zur Erscheinung. Er spricht davon, dass »alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können« nur »Manifestationen der Idee« sind. Für den reinen Phänomenalisten ist jede Erscheinung, die unsere Sinne uns vermitteln, eine reine, ungetrübte Kundgebung des Wesens einer Sache. So wie das Mienenspiel eines Menschen uns seine Seelenbewegungen verraten kann.

Diese Einstellung durchzieht auch eine besondere Art der Kunstästhetik: Das Kunstwerk soll unmittelbarer Ausdruck des dahinter liegenden Konzepts sein und kein Rätselraten. Der in Berlin durch Christo verpackte Reichstag ist für den Phänomenalisten nur ein Riesenpaket gewesen, denn metaphysische Philosopheme erkennt er in der Kunst nicht an.

Gegen sinnesphysiologische Spekulationen über das Subjektive unserer Sinnesbetätigung wendet der Phänomenalist ein: Die Tatsache, dass die Sinne erst durch komplexe neurologische Vorgänge uns die Wahrnehmung der Welt ermöglichen, heißt nicht zwangsläufig, dass sie uns nicht Wahrheit vermitteln.

Dieses Thema wird uns im nächsten Beitrag bei der Besprechung weiterer Weltanschauungen, des »Sensualismus« und des »Materialismus« beschäftigen. Jetzt ist es wichtig, festzustellen, dass der Phänomenalist die ganze Schöpfung samt dem Menschen als eine Offenbarung verborgener Gesetze erklärt, mit deren Entfaltung wir zu immer tieferen Wahrheiten gelangen können. In dieser Haltung wurzelt auch manche Form von Naturreligion. Für die Kelten war beispielsweise der Sonnenaufgang eine besondere Offenbarung des Sonnengottes. Auch diese Anschauung hat trotz der Skepsis, die sie im aufgeklärten Menschen hervorrufen kann, ihre Berechtigung. Doch eine Weltanschauung allein kann nicht die volle Wahrheit erfassen. Sie bedarf der Ergänzung durch ihre »Schwestern«.

Jeder kann ein bisschen Phänomenalist werden

Auch – und besonders – in der Pädagogik darf der Phänomenalismus eine hervorragende Rolle spielen. Wie viel kann doch der Pädagoge aus der Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen, aus ihrem Gang, ihrer Gesichtsfarbe oder Sprechweise ablesen und in sinnvolles pädagogisches Tun umsetzen!

Selbst wenn wir keine geborenen Phänomenalisten sind, kann jeder von uns durch gezielte Beobachtungen von Naturvorgängen und durch Interesse für andere Menschen, durch Offenheit, durch Empathie, Zugang zu Welten erlangen, die uns bisher verschlossen geblieben sind.

Aber es gibt noch elf andere Sichtweisen. Nicht selten bekämpfen sie sich gegenseitig. Gibt es überhaupt einen Frieden im Chaos der Weltanschauungen, aus dem Frieden im Sozialen erwachsen kann? Ja, den gibt es. Die nächsten Beiträge werden versuchen, einen Weg zur Lösung dieser sehr aktuellen Frage aufzuzeigen.

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus-Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher. Zuletzt erschienen: Leben im Geiste der Anthroposophie – Eine Autobiografie, Verlag des Ita-Wegman-Instituts, Arlesheim 2015.

Literatur: K. Lorenz: Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, München 1964 | J.W. Goethe: Sprüche in Prosa, kommentiert und herausgegeben von Rudolf Steiner, Nr. 185, Neuausgabe Stuttgart 1999