Gerade die Pädagogik für Kinder mit Wahrnehmungs- und Lernproblemen hat sehr gute psychologisch-methodische Erkenntnisse gebracht – die man in die Waldorfpädagogik einfließen lassen könnte.
Beispiel Lesenlernen: Dass allgemein zuerst die Vokale, dann die lang klingenden Konsonanten und dann die stimmlosen Konsonanten gelehrt werden, basiert auf der Wahrnehmungspsychologie ... in der Waldorfklasse meiner Nichte ist die Reihenfolge umgekehrt! Gut, dass sie schon lesen kann ... Aber was wird mit den Kindern, die Leselernprobleme haben?
Wenn z.B. als Bild für das S eine Schlange gewählt wird, so kann die Schlange zwar wie ein S aussehen oder auch ssssss machen, aber sie selbst beginnt nun mal mit sch und dieser Unterschied zwischen Buchstabe und Laut ist für Kinder mit Lernschwierigkeiten schon eine unnütze Hürde (warum also nicht wenigstens eine Seeschlange?). Ist die Methodenfreiheit des Lehrers hier sinnvoll?
Es gibt z.B. den in der Sonderpädagogik bewährten Kieler Leselehrgang und daraus weiterentwickelt den Dresdner Schriftspracherwerb. In letzterem sind alle nötigen Wahrnehmungsbereiche aufgeschlüsselt und werden geübt mit Bewegung, Lautgebärden (!), Bildern. Wörter werden aufgeschlüsselt, weil diese Kinder ein ganzes Wort zuerst gar nicht erfassen können: Silbenanzahl erkennen (Silbenboote) – Kapitän (Vokal) jedes Silbenbootes hörend erkennen – Matrosen (Konsonanten) vor oder nach Kapitän einordnen. Entwickelt ist die Methode für sprachbehinderte Kinder, bewährt sich auch bei lernbehinderten sehr gut. Ein Satz aus dem Vorwort (sinngemäß): 70% der Kinder lernen lesen, völlig unabhängig von der verwendeten Methode. Für die restlichen 30% ist dieser Lehrgang entwickelt worden. Für diese 30% ist es nicht egal, wie man ihnen das Lesen beibringt – und auch für die anderen wäre eine psychologisch fundierte Methodik hilfreich. Wenn sie mit den bewährten Vorteilen der Waldorfpädagogik verknüpft wird – um so besser!
Außerdem verstehe ich nicht, warum – auch in der »Erziehungskunst« – immer wieder der offene Unterricht, den alle anderen freien Schulen (und viele staatliche Grundschulen) praktizieren, schlechtgemacht bzw. abgelehnt wird. Häufige Phasen offenen Unterrichts (in dem jeder Schüler an dem Vorhaben arbeitet, das ihn gerade am meisten motiviert – und z.B. auch an dem ihm angenehmen, selbstgewählten Arbeitsplatz oder mit selbstgewählten Partnern) müssen nicht bedeuten, dass der Lehrer die Schüler alleinlässt oder die Schüler nicht mehr das Gefühl haben dürften, dass der Lehrer etwas Wertvolles für sie vorbereitet hat. Eher werden Über- bzw. Unterforderungssituationen vermieden und die Schüler sind motivierter. Meinem Eindruck nach entstehen bei überwiegend frontalem, lehrerzentriertem Unterricht eher Aggressionen (die sich dann durch Unterrichtsstörungen oder in den Pausen zeigen) als bei offenem Unterricht. Auch an Waldorfschulen ... (Das wäre mal ein lohnendes Forschungsthema.) Und: echte Inklusion ist m. E. nur mit Hilfe von offenem (oder zumindest zieldifferentem) Unterricht zu realisieren!
Der Artikel »Frischer Wind aus Nord-Ost« (05/2014) hat mir da wirklich Freude gemacht. Bei solchen altersgemischten Gruppen ist das Differenzieren nach Lernziel und Inhalt eine Selbstverständlichkeit. Man hat da so viele Möglichkeiten, den Kindern individueller gerecht zu werden als in einem Unterricht, wo alle zur selben Zeit dasselbe machen! Und auch Kinder mit Behinderungen können ganz selbstverständlich auf ihrem Bedürfnisstand mitlernen. Weiter so und viel Erfolg!
Mit freundlichen Grüßen