Leserbrief zum Leitartikel von Mathias Maurer in der Erziehungskunst vom Januar 2012
Geld und Waldorfschule – das ist ein immer wiederkehrendes Thema, das zu zahlreichen Hoffnungen und Irrtümern Anlass gibt. Im Editorial der Januar-Ausgabe bot Mathias Maurer einen phantastischen Ausblick: »Die Einführung von Bildungsgutscheinen könnte die politische Blockade aufheben und die freie Schulwahl ohne finanzielle Einbußen ermöglichen – inklusive einer 100-Prozent-Bezuschussung. … (So) wäre eine angemessene Erhöhung der Gehälter kein Problem mehr.«
Dieser Traum hätte an der einzügigen Freien Waldorfschule Marburg im Jahre 2011 folgendermaßen ausgesehen:
- Wir hatten 457 Schüler/innen, davon 148 in der Primarstufe (Klassen 1-4), 227 in der Sekundarstufe I (Kl. 5-10) und 82 in der Sek. II (Kl. 11-13).
- Das Land Hessen zahlte uns an Zuschüssen: pro Schüler/in der Primarstufe 3.551,– Euro, der Sek. I 3.896,– Euro und der Sek. II 6.184,– Euro, d.h. in Summe: 1.917.028,– Euro.
- An kommunalen Zuschüssen erhielten wir 355,50 Euro je Schüler/in, an Investitionszuschüssen vom Land 110,– Euro, also in Summe: 212.734,– Euro.
- Unsere Eltern zahlten an Beiträgen insgesamt: 835.668,– Euro.
Wir erzielten auf der Einnahmenseite in 2011 nach dem jetzigen Modell also 2.965.430,– Euro. Der Bildungsgutschein hätte dagegen – unter der Annahme des günstigsten Falls, dass die öffentliche Hand keine der rechtlich vorhandenen Spielräume für Abschläge nutzt – zu folgender Situation geführt:
- Das Land zahlt uns momentan 87,5 Prozent des (wenig stichhaltig festgesetzten) 100-Prozent-Schüler/pro/Kopf-Satzes. Erhielten wir 100 Prozent, so wären dies in 2011 2.190.909,– Euro gewesen.
- Da das Land uns in den letzten zwei Jahren den Inflationsausgleich vorenthält, würde dieser nun gezahlt. Ich gehe von 6 Prozent für diese Zeit aus. Das ergäbe 2.322.364,– Euro statt 2.190.909,– Euro.
- Die kommunalen Zuschüsse liegen viel zu niedrig. Die Stadt Marburg hat sie jüngst mit 1.343,– Euro pro Schüler/in genau berechnet. Darin sind investive Kosten eingeschlossen. Es ergäben sich also bei 457 Schüler(inne)n 613.751,– Euro.
Da die Elternbeiträge im Gegenzug entfielen, hätten wir in diesem angenommenen, für uns günstigsten Fall 2.936.115,– Euro über Bildungsgutscheine erhalten – also sogar ca. 30.000,– Euro weniger, als wir real in der Kasse hatten.
Es wird vermutlich auch Schulen geben, die über Bildungsgutscheine etwas höhere Einnahmen erzielen würden, aber insgesamt werden sich Gewinne und Verluste durch dieses System für die deutsche Schulbewegung sicher die Waage halten. Dennoch sind wir dezidiert für die Einführung eines solchen Modells, denn nur dadurch lassen sich die Ungerechtigkeiten und Selektionsfolgen des Schulgeldes aus der Welt schaffen, und wir wären endlich wirklich eine Schule für ALLE, so, wie wir es immer vorhatten. Die Gehaltsfrage lässt sich so aber nicht lösen. Dazu müssten wir ganz andere Maßnahmen ergreifen – nämlich genau die, die der Staat ergreift, um seine Gehälter zu zahlen (s. dazu auch meinen Aufsatz in der Erziehungskunst 7/8, 2005), und damit genau die, die wir aus unserer waldorfpädagogischen Überzeugung gerade ablehnen:
- Wir müssten mindestens 26 Stunden pro Woche unterrichten.
- Wir müssten die Gruppengrößen hochfahren, d.h., statt dass wie momentan ca. 1 Lehrkraft auf 11 Schüler/innen kommt, müsste es ein Verhältnis von ca. 1:19 sein.
- Durch die dann gestiegene Arbeitsbelastung würde die klassische Form der Selbstverwaltung nicht mehr aufrecht zu erhalten sein, d.h., wir müssten zu einer kleinen und effizienteren Form der Schulleitung übergehen, ggf. verbunden mit einer Hierarchisierung.
- Wir müssten einige Stellen und damit Fächer abbauen, die der Staat in seinen Schulen für nicht notwendig hält.
- Und wir müssten bereit sein, die sozialen Verstimmungen in den Kollegien hinzunehmen, die durch die merklichen Gehaltsdifferenzen zwischen Sekundarstufe II-Lehrkräften und z.B. Klassenlehrern oder gar Kindergärtnerinnen entstehen würden; denn man wird ja nicht ernsthaft glauben, dass wir die hohen Gehälter, die der Staat den Gymnasiallehrkräften zahlt, nicht nur unseren damit vergleichbaren Kolleg(inn)en, sondern sogar allen würden zahlen können, d.h., die übrigen sogar deutlich besser als der Staat die seinigen zu entlohnen.
Wer dies anders sieht, möge es mir bitte anhand seiner konkreten Schuldaten belegen. Mein Urteil gründet nur auf den Zahlen der Marburger Schule sowie einer Reihe von Recherchen und Gesprächen mit Kolleg(inn)en anderer Schulen. Ich habe großes Interesse daran, dies anhand weiterer Zahlen zu differenzieren.
Abschließend sei noch angemerkt, dass nach meinen Nachforschungen die aus dem Thema »Bildungsgutschein« abgeleitete Kausal-Behauptung »Mehr Gehalt – mehr Lehrer« (so die Überschrift des Artikels von Mathias Maurer) nicht stimmt bzw. im besten Fall höchstens in relativ wenigen Fällen zutrifft (am ehesten bei Oberstufenlehrer(inne)n mit Abitur-relevanten Fächern und entsprechender Gymnasial-äquivalenter Ausbildung). Hier gibt es mehrere wesentlichere Gründe für unseren Lehrermangel, die ich auch gerne benennen kann. Aber das ist ein weiteres Thema.
Unserem Geschäftsführer Herrn Andreas M. Schäfer danke ich herzlich für das gemeinsame Nachrechnen!
Manfred Feyk, Rittmarshausen bei Göttingen, 02.06.15 10:06
Lieber Herr Rohde,
zunächst einmal wünsche ich der Marburger Schule alles Gute und beglückwünsche Sie zu ihrem seit einiger Zeit "leider" verrenteten hervorragenden ehemaligen Geschäftsführer.
1. Die erfreulichen Saldi, die sie für ihre Schule vorlegen können, sind in der FWS-Landschaft äußerst selten. Gegen die Einführung des Bildungsgutscheins spricht ihre dankenswert offene Bilanz von 2011 grundsätzlich nicht, wie sie ja selbst einräumen.
2. Verpflichtende Inklusion lässt die Waldorfpädagogen in einem Umfang auf LE- und ESE-Schüler treffen, die das notgedrungen ungerechte und selektierende Waldorfschulmodell und die angewandte Waldorfpädagogik erschüttern wird. Konkurrierende neue Schulkonzepte z. B. in IGSn, auch ohne Notenvergabe bis Ende der 8., mit Profilierungsjahren und Projekten tun das ihre, um die Marburger Bilanz so nicht halten zu können.
3. Sehr gut wäre es, würden die Stundenzahlen auch fair und transparent abgegolten, wie dies an anderen (auch staatlich anerkannten) Schulen unter Einbeziehung von Vor- und Nachbereitungszeit sowie Verwaltungsarbeit der Fall ist.
4. Die klassische Form der FWS-Selbstverwaltung ist doch längst gescheitert! Eine verdeckte Hierarchie dagegen besteht in allen Waldorfschulen! Dies ist schlimmer als eine offene mit funktionierenden Kontrollorganen, wie sie durch eine ordentliche Betriebsverfassung gewährleistet werden kann! Hierdurch würde auch der Raum für eine wirksame Interessenvertretung der Lehrer geschaffen, die auch flächendeckend für alle FWSn dringendst notwendig ist!
5. Das über alle Jahrgänge und Teildeputate einschließlich aller Fachkräfte an der Schule gerechnete Lehrer-/Schülerverhältnis 1:11 sollten Sie nicht auch noch verbreiten. Sie wissen um die Klassenstärkenunterschiede in den einzelnen Jahrgangsstufen und damit, was ein Klassenlehrer z. B. in Klasse 7 und 8 zu schultern hat, wenn er alle Fächer zu unterrichten vermag!
6. Im Zuge des Ausbaues der eigenverantwortlichen Schule und der Inklusion wird es möglich sein, besondere Fächer auch weiterhin anzubieten. Wer würde Sie und Kollegen denn daran hindern, möglicherweise einen Bruchteil ihres Gehaltes dafür einzusetzen?
7. Soziale Verstimmungen wegen der Entlohnung wage ich zu bezweifeln. Die gibt es schon zuhauf! Denken Sie nur an die Stundenbegründung im Volldeputat in der Eurhythmie!
Im Übrigen stehen die total veralteten Begründungen für die unterschiedlichen Gehaltsordnungen und damit diese selbst, auch angesichts der Anforderungen an heutige Lehrkräfte gerade der Unter- und Mittelstufe (letztere in allen Schulformen), politisch und gewerkschaftlich auf dem Prüfstand!
Wie werden die Deputate bezahlt und wieviele volle Deputate an Waldorfschulen gibt es denn? Diese schon ausbeuterischen Verhältnisse - von Marburg und anderen wenigen Schulausnahmen abgesehen - schreien zum Himmel! Mathias Maurer hat Recht, wie man es auch drehen und wenden mag!
Manfred Feyk, Lehrer
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