Aufrecht ohne Gängelwagen

Till Reckert

Sehr geehrte Frau Sieburg,

Ihre innere Entwicklung zur Impfkritikerin begann wahrscheinlich, bevor Sie mit Ihrem acht Monate alten Säugling und einem diffus unsicheren Gefühl zu einem Impfgespräch in Ihre ehemalige Kinder- und Jugendarztpraxis kamen. Hätte man Sie dort sicherer und kompetenter machen können? Und wenn ja, wie? Dies werden sich manche meiner Kolleginnen und Kollegen fragen, die Ihren Bericht in der Erziehungskunst vom Juli 2016 lesen.

So wie die Beratung ablief, betraten Sie diese Praxis danach nicht mehr und suchten dafür intensiv Rat in »unzähligen« Büchern, Vorträgen, Symposien ... All dies scheint Sie aber auch nicht sicherer gemacht zu haben. Ein Blick ins Internet lässt ahnen, warum. Können Sie den Gehalt verschiedener Behauptungen, die Sie über die Erziehungskunst in die Waldorf-Community weitertragen, gut überprüfen und gewichten? Spätestens wenn man an der Aufrichtigkeit der (generell kommerziell fremdgesteuerten?) Wissenschaftler und Ärzte zweifelt, glaubt man nichts mehr und verzweifelt an allem.

Sicherer fühlten Sie sich letztlich durch Begegnungen mit Menschen, denen Sie vertrauten. Geholfen hat Ihnen vielleicht auch die Zeit der komplikationslos verlaufenen Masenerkrankung ihrer Tochter, von der Sie berichten. Umso mehr werden Ihre weniger informierten Leser sich jetzt fragen, wo denn insbesondere bei den Masern das Problem ist, das die gesellschaftliche Impfdebatte so emotional macht:  Daher möchte ich hier eine andere, extreme und seltene Geschichte weitererzählen. Sie bringt die Ihrige etwas ins Gleichgewicht (denn die passende Überschrift zu Ihrem Bericht müsste ja eigentlich heißen: »Impfen: lieber nicht«): Am Montag, den 17.5.1999 saß ein 11-jähriger Junge im Wartezimmer von Dr. Holzhausen in Bad Salzuflen mit einem fieberhaften Infekt, von dem sich dann herausstellte, dass es Masern waren. Er steckte dort sechs Kinder an, die in den nächsten zwei Wochen behandelt wurden. Darunter waren 3 Säuglinge: Zwei von ihnen, Natalie (12 Monate alt) und Micha (5 Monate alt) bekamen Jahre später als Masernfolgeerkrankung eine subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) und verstarben nach einer jahrelangen Leidensgeschichte (siehe: http://www.nido.de/artikel/masern/). Dr. Holzhausen behandelte ungeimpfte Kinder nur noch in Notfallsituationen und hätte nur wenig Verständnis für Ärzte wie mich gehabt, die dies anders handhaben. Denn eine SSPE wünscht niemand niemandem.

Ich hatte vor einigen Jahren mit Herrn Tolzin (www.impfkritik.de) eine Email-Korrespondenz zu diesen Fällen. Er war nicht davon abzubringen, die behauptete Infektkette für unbewiesen zu halten. Aber auch sonst gehen Infektionskrankheiten für ihn ja auf »Seuchenerfinder« zurück. Ich hatte das Gefühl, einem überzeugten Geisterfahrer entfernt begegnet zu sein. Auf Datenautobahnen ist Platz genug für alle; man kann sich dort auch geisterfahrend relativ unfallfrei unter seinesgleichen bewegen.

Natalie und Micha waren noch zu jung für eine Masernimpfung. Aber masernkranke Säuglinge sind besonders gefährdet für eine SSPE. Und ja, es stimmt: Da geimpfte Mütter weniger Nestschutz mitgeben als die Mütter der vorletzten Generation, sind diese Säuglinge heute relativ gesehen gefährdeter. Sie können nur indirekt dadurch geschützt werden, dass Masern nicht mehr in ihrem Umfeld kursieren. 2015 waren von insgesamt 2603 Masernkranken 204 Säuglinge (und 1012 Erwachsene über 20 Jahren) betroffen (https://survstat.rki.de). Dies war auf beiden Altersseiten ein Rekord seit Einführung der Masernmeldepflicht 2001. Nicht die Masernviren sind gefährlicher geworden als früher. Komplikationsträchtiger sind aber die Erkrankungen untypischer Altersgruppen. Die ist ein Preis dafür, dass die Masern durch die Impfungen absolut gesehen seltener und unregelmäßiger auftreten.

Am Schluss Ihres Berichtes fragen Sie, wer Verantwortung übernimmt, wenn Ihr Kind erkrankt. Es sind Sie als Eltern und auch Ihr behandelnder Arzt, je nachdem, wie Sie ihn einbeziehen, ihm Verantwortung übergeben und ihm vertrauen. Und selbstverständlich: Immer geht das Leben seinen Weg und dieser ist zu allerletzt immer lebensgefährlich. Aber gleichzeitig ist es menschlich, dass wir unseren Lebensweg vorausschauend mitgestalten und aufrecht gehend auf ihm balancieren. Dies ist anstrengend und wird nur durch ständige innere Aktivität bewältigt. Aber sonst hätten wir unsere Hände nicht frei. Auch bei der Impfentscheidung wird dies augenfällig. Ich wünsche Ihnen und allen anderen Eltern ein gutes Gleichgewicht in Ihrem Leben mit Ihren Kindern.

Und ich persönlich glaube, dass eine Impfpflicht wie ein Gängelwagen (heute auch euphemistisch »Gehfreiwagen« genannt) wäre und daher menschlicher Eigenverantwortung nicht gerecht würde (mal abgesehen von praktischen Problemen, die eine generelle Impfpflicht mit sich brächte). Daher ist es wichtig, dass wir auch aus freien Stücken füreinander einstehen. »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens sind die Grundmaximen des freien Menschen« (R. Steiner, »Philosophie der Freiheit«). Rudolf Steiner hatte die Kinder eines anthroposophischen Kinderhortes und sich selber gegen Pocken impfen lassen, als diese vor 100 Jahren in Berlin kursierten (W. G. Vögele: »Sie Mensch von einem Menschen – Rudolf Steiner in Anekdoten«).

Der Autor ist Kinder- und Jugendarzt in Reutlingen.