Die Kuh im Zimmer

Manfred Schulze

Sehr geehrter Herr Momsen, sehr geehrter Herr Schmidt!

Ich habe gar nicht angezweifelt, dass ADHS eine wissenschaftlich gut beschriebene Krankheit ist. Ich habe nur zu bedenken gegeben, dass durch eben diese Beschreibung und durch die ihr zugrunde liegende wissenschaftliche Fragestellung die Krankheit eben auch erst erfunden worden ist. Und wo eine neue Krankheit ist, gibt es eben auch bald ein medizinisches »Pulver« zur Heilung. Ich vermute, diese »Krankheit« wird in zehn bis zwanzig Jahren wieder anders heißen und auf die heutige Medikation wird man mit Kopfschütteln schauen.

Doch wenn man annimmt, durch die wissenschaftlichen Beschreibungen wären Tatsachen festgestellt worden, die ich angeblich anzweifle oder nicht zur Kenntnis nehme, so hat man die letzten 30 Jahre Wissenschaftskritik und auch die anthroposophische Erkenntnisphilosophie nicht wirklich zur Kenntnis genommen.

Wissenschaftliche Erkenntnis ist weder ein Tatsachenbeweis noch eine beweiskräftige Abbildung irgendeiner Realität »da draußen«, sondern eine immer interessengeleitete und motivbegleitete Erschaffung eines neuen Tatsachengebietes, das dann seine Wirksamkeit entfaltet. Schon die Fragestellung »erschafft« ein manchmal neues Problemfeld und jede Untersuchung, das hat schon Heisenberg für die Physik festgestellt, wird von der Natur treulich beantwortet. Man sollte also besser auf die Fragestellung achten, deren Konsequenzen und Interessen ja gerade in der Medizin nicht selten bis zu den Geldquellen der Auftraggeber zurückverfolgt werden können. Es ist naiver Empirismus, wenn man glaubt, dass durch wissenschaftliche Untersuchungen Wahrheiten festgestellt oder gar Handlungsweisen begründet werden. Sie entkommen nicht der konstruktivistischen Schöpfungskraft ihrer Fragestellung und noch weniger den Maßgaben ihrer Methoden. Wenn ein Primatenforscher ein Experiment durchführt, wird es eben schwer sein, festzustellen, ob er am Ende seine eigene in den Experimentalaufbau hineingelegte Intelligenz oder die des Affen beobachtet und beschrieben hat. Und die physikalische Erklärbarkeit eines Atomkraftwerkes samt Unfall legitimiert nicht seinen Bau und Betrieb!

Was heißt, etwas erfinden?

Eine Erfindung hingegen ist etwas Wirkliches! James Watt hat die Dampfmaschine erfunden. Dadurch sind altbekannte physikalische Gesetze und alte sowie neue Maschinenelemente durch ihn vollkommen neu zusammengestellt worden, so dass eine neue Wirklichkeit mit den immensen Ausmaßen der Industrialisierung entstanden ist. Noch ein Schritt weiter: Die Anthroposophie ist eine freie Erfindung Rudolf Steiners, der alte geheime und zum Teil noch gar nicht in Begriffe gefasste oder nur in Bildern bestehende Zusammenhänge der geistigen Welt in den durch ihn neu geschaffenen Begriffen und Methoden erstmals öffentlich wirken ließ. Durch ihn ist also auch ein (ideelles) Aggregat erschaffen und erfunden worden, das in der Welt durch die Menschen, die damit arbeiten, neue Wirklichkeiten erzeugen kann. Leider sind diese noch nicht so weitreichend, wie die Erfindung von Watt.

Mit der Erfindung von ADHS und bestimmten Medikamenten wird gearbeitet; letztere können ohne Zweifel im mikrosozialen Raum manches Kind beruhigen und damit dessen Eltern und Lehrer. Sie stabilisieren damit die Familie und ein Schulsystem, das den stillsitzenden Schüler bevorzugt. Diesem System und seiner Befestigung gilt meine Kritik und nicht der ärztlichen Arbeit. Zudem ist der Nachweis der gesellschaftlichen Erzeugung von Krankheit nicht zynisch sondern kann wie beim burn-out auch entlasten.

Was ist, wenn »Hilfe« zum asphaltierten Holzweg wird?

Nehmen wir einmal an, durch die Signatur des 20. Jahrhunderts mit den industriellen Massentoden in den Kriegen und den Lagern der Nationalsozialisten, der Stalinisten, der roten Khmer, haben die in ihrem Befehlsnotstand gehorsamen Soldaten beschlossen, nie wieder einer Autorität zu folgen, und sie kommen mit gesteigerter Wachheit und Handlungsbereitschaft erneut auf die Welt. Nehmen wir an, dass Kinder, die durch diese Freiheitsspäre inkarnieren in ihrer Konstitution eine andere Aufmerksamkeitsschwelle und Hemmschwelle haben. Sie haben diese Kräfte in sich und sie brauchen Handlungsvorbilder und kreative bildreiche Ideen zur Rettung der Welt, sonst wirken diese Kräfte zerstörend. Sie brauchen also eine Schule mit tätigen künstlerischen und handwerklich begabten Lehrern, die vorangehen und denen man aufmerksam bei ihrer Verwandlung der Materie zuschauen kann und wo man sich an den Arbeitsstrom frei anschließen kann und will. Hält man so ein Bild für zutreffend, muss man die Schule neu denken.

Könnte es nicht sein, dass man mit der medikamentösen »Hilfe« für die Schüler auf einem durchaus wirkungsvollen und mit wissenschaftlichen Argumenten asphaltierten Holzweg ist? Ein Richtungswechsel hieße, eine Polarisierung nicht zu beklagen. Beharrte man trotz dieser Argumente auf der Gabe von Ritalin, ist diese gewollt! Ein stillschweigendes Arrangement der Waldorfschule mit der ADHS-Medizin kann es doch wohl nicht auf Dauer geben.

Direkt vor dem Haus Ihrer Gemeinschaftspraxis in Dortmund-Scharnhorst, mitten in der Stadt auf einer Industriebrache arbeiten Erzieher und Kinder und Schafe an der Rekultivierung dieses Grundstückes. Dorthin kommen Kinder, die keinen Sinn in der Schule mehr finden. Sie können ja gerne ihren Patienten und Eltern die Wahl eröffnen zwischen dem Medikament und einer Auszeit bei so einem Projekt. Die von ihnen angeführten unterpriviligierten Menschen haben einen guten Sinn für richtige Arbeit.

Und da gibt es dann noch ein Vermächtnis eines alten anthroposphischen Arztes aus der Überlieferung Steiners: Die Mediziner sollen für die Zukunft die pädagogisch-therapeutisch äquivalente Geste zu den von ihnen eingesetzten Substanzen suchen und die Pädagogen die ihren Methoden entsprechenden materiellen und substanziellen Stoffverwandlungen. Dann hilft der Arzt dem Lehrer und der Lehrer dem Arzt. Da wird dann in Zukunft, wie der Literat Robert Bly mit Augenzwinkern sagt, bei jeder therapeutischen oder pädagogischen Veranstaltung selbstverständlich eine Kuh mit im Zimmer sein …

Mit freundlichen Grüßen

Manfred Schulze

Zum Leserbrief von Uwe Momsen und Arne Schmidt