»Ein immer ganz besonderer Schmerz …«

Philipp Gelitz

Die ersten drei Jahre des Kindes sind die prägendste Zeit der gesamten Biographie. Egal ob Hirnforscher, Bindungsforscher, Entwicklungspsychologe oder Waldorfpädagoge – da sind wir uns alle einig. Ich unterstelle, dass fast jeder Waldorfkindergarten bei der »Krippenfrage« eine interne Kontroverse auszuhalten hat. Dazu einige Anmerkungen. Es wird im Waldorfzusammenhang oft nicht ausreichend verstanden, dass Rudolf Steiner selbst viel undogmatischer war, als wir ihn manchmal gerne sehen. Man meint dann gerne, niemals hätte sich Steiner eine Krippe denken können, und es sei »kein Ausspruch von Rudolf Steiner bekannt, der eine institutionalisierte frühkindliche Betreuung gutgeheißen hätte« (Venturini, Erziehungskunst November 2012).

Steiner führt aus: »Gerade wenn man an das ganz kleine Kind in der Eigenschaft eines erziehenden Führers durch Elternschaft oder durch ein anderes Verhältnis heranzutreten hat, dann fühlt man gegenüber dem ganz kleinen Kinde in einem außerordentlich starken Grade die Verpflichtung, auf den ganzen menschlichen Lebenslauf verstehend eingehen zu können. Es ist mir daher ein immer ganz besonderer Schmerz gewesen, dass wir für die Stuttgarter Waldorfschule erst Kinder bekommen können, die schon das in Mitteleuropa als schulpflichtig bezeichnete Alter erreicht haben. Es wäre mir eine tiefe Befriedigung, wenn auch schon das jüngere Kind in die Freie Waldorfschule hereingenommen werden könnte« (GA 303, S. 120).

Im weiteren Verlauf des Vortrags spricht Steiner dann nicht nur von Eltern, sondern auch von »erziehenden Führern« gegenüber Kindern in den ersten zweieinhalb Lebensjahren und spinnt danach noch ein Beispiel von »zwei Erzieherinnen« aus, die zweieinhalb bis fünfjährige Kinder zu erziehen haben. Waldorfpädagogik sei – so Steiner an anderer Stelle – »eine besondere Pädagogik, die den Menschen wirklich berücksichtigt. Das wird sich noch deutlicher zeigen können, wenn einmal diese Pädagogik für die ersten Jahre des Kindes ausgebildet sein wird. Wir können das noch nicht machen. Wir hatten bis jetzt immer nach oben anzustückeln und haben in diesem Jahr die letzte Klasse eingerichtet. Man hat sehr viel zu tun, wenn man eine ganze Schule in ihren Lehrzielen ausgestalten will. Deshalb war bis jetzt nicht daran zu denken, auch nach unten die Sache vollständiger zu machen und eine Art Kindergarten daranzustückeln. (…) Wie man es da einrichten würde für das Gehenlernen, Sprechenlernen, Denkenlernen und ihre weitere Entwicklung, so richten wir natürlich auch zwischen dem sechsten und siebenten und den andern Lebensjahren die Sache so ein, dass wir darauf Rücksicht nehmen: Was verkörpert sich da im Kinde?« (GA 224, S. 206 ff.).

Da wir doch einen inneren Auftrag verspüren, für alle Kinder, deren Eltern es so wollen, da zu sein, meine ich, dass wir sowohl Waldorfkrippen brauchen, und zwar auf dem höchst möglichen Niveau, als auch Tagesmütter, als auch Elternbildung für die zu Hause erziehenden Eltern. Anthroposophie hat jeder Lebenssituation etwas zu geben. Die nächste Aufgabe, die auf Waldorfpädagogen wartet, ist übrigens, die Bedeutung von Schwangerschaft, Geburt und erstem Lebensjahr zu vermitteln. Auch da haben Anthroposophie und Waldorfpädagogik einen Auftrag, dem sie bisher aber erst an ausgewählten Orten gerecht werden.

Von daher brauchen wir keine Diskussion, ob wir für ein bestimmtes Alter Waldorfpädagogik entwickeln, sondern wie wir für welches Alter die bestmögliche Pädagogik gestalten. Es geht um die Qualität. Und das heißt: Es geht um die menschenkundliche Fundierung unseres Handelns in der Gegenwart.